INTERVIEW - «Ich hätte Mühe, den Ferrari anzunehmen» – der neue Schwingerkönig Armon Orlik ist Velo-Fan


Gian Ehrenzeller / Keystone
Armon Orlik, Ihr Hauptsponsor ist ein Sonnenstoren-Fabrikant. Und dessen Chef liess einmal verlauten, dass der Erste der von ihm unterstützten Schwinger, der König werde, einen Ferrari erhalte. Steht die Luxuskarosse schon in Ihrer Garage?
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Ich hätte wegen meines Gewissens Mühe, ihn anzunehmen, weil das Präsentieren von Statussymbolen nicht meinen Werten entspricht. Ich bin eher Velofahrer.
Und wenn Ihnen der Sponsor ein Velo hinstellen würde, das an der Tour de France gefahren wurde?
Eines mit der Unterschrift des Weltmeisters Mathieu van der Poel drauf, das wär’s! (Lacht.) Ich finde ihn einen spektakulären Sportler und einen wahren Kämpfer.
Woher kommt Ihr Interesse für den Radsport?
Im Gymnasium waren wir ein paar Kollegen, die intensiv die Tour de France verfolgten, mit ihnen gehe ich ab und zu auf Velotouren. Wir machen pro Ausfahrt einen knackigen Anstieg, zum Beispiel den Albula-, den Julier- oder den Flüelapass. Drei Stunden maximal, ich darf ja nicht zu viel Gewicht und Schnellkraft verlieren fürs Schwingen.
Sie gehören am Wohnort Rapperswil-Jona der Interessengemeinschaft Pro Velo an.
Ja, als einfaches Mitglied, das sich für das Thema interessiert. Ich hatte im Studium an der Fachhochschule eine Arbeit darüber verfasst, wieso das Velonetz in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen besser funktioniert als die Velonetze in Schweizer Städten. Bei uns sieht man nur dort viele Velofahrer, wo die Sicherheit genügt. Da könnte man Verbesserungen erzielen, gerade mit Blick darauf, dass der Autoverkehr nicht zu stark zunehmen sollte.
Statt den Muni Zibu nahmen Sie den Gegenwert in Form von Geld an. Die Summe liegt im Bereich eines besseren Kleinwagens. Was leisten Sie sich davon?
Anfang 2024 schlenderte ich durch die Stadt, schaute mir im Schaufenster Uhren an und sagte mir: «Komm, wenn du zum Saisonhöhepunkt das Eidgenössische Jubiläumsschwingfest in Appenzell gewinnst, gönnst du dir einen schönen Chronometer.» Doch ich verlor den Schlussgang gegen Fabian Staudenmann. Nun, als König, möchte ich den Kauf nachholen.
ac. · Armon Orlik, 30 Jahre alt, hat sich Ende August am Eidgenössischen in Mollis zum ersten Schwingerkönig aus dem Kanton Graubünden gekrönt. Dass ein Schwinger König wurde, obwohl er nicht im Schlussgang stand, war vor dem Zweiten Weltkrieg schon vorgekommen: 1926, worauf ein Jahr später der Kilchberger Schwinget erfunden wurde, als Revanche fürs Eidgenössische. Der 1 Meter 90 grosse und 115 Kilogramm schwere Orlik gehört seit einem Jahrzehnt zu den «Bösesten» im Land, er hat 26 Kranzfeste und 76 Kränze gewonnen. Sein Vater hat Wurzeln in der damaligen Tschechoslowakei, die Familie pflegt heute jedoch so gut wie keine Verbindungen mehr in die Region.
Welche Reaktionen auf Ihren Titel haben Sie am meisten berührt?
Jene der Gymi-Kollegen, die sich mit ehrenamtlichen Einsätzen Tickets verdienten, damit sie mich am Eidgenössischen unterstützen konnten. Oder jene am Empfang im Heimatdorf Maienfeld, wo ich lauter Leute sah, die ihren Teil zum Titel beigetragen haben, auch solche, mit denen ich die neue Schwinghalle unseres Klubs baute.
Die Schwinghalle in Untervaz entstand mit Fronarbeit, Anfang 2022 wurde sie eröffnet. Was war Ihr Beitrag?
Als Bauingenieur habe ich sie mitgeplant, mitgezeichnet und die Statik analysiert. Auf der Baustelle machte ich dann das, was für mich vom Handwerklichen her möglich und versicherungstechnisch erlaubt war, etwa Schaufeln für den Massivbau. Heuer hätte ich weniger Zeit fürs Helfen gehabt, weil ich alles dem Eidgenössischen unterordnete. Ich formulierte früh das Ziel, dass ich in Mollis Schwingerkönig werden will.
Michael Buholzer / Keystone
Von Schwingern wird erwartet, dass sie ihren Sport nicht als Profis betreiben. Sie arbeiten im 50-Prozent-Pensum für eine Ingenieurfirma. Was bedeutet Ihnen der Job?
Er sorgt für Ausgleich. Vormittags arbeite ich, nachmittags trainiere ich. Ich werde bald wieder regulär am Arbeitsplatz sein, kurz unterbrochen von Ferien im nahen Ausland. Ich muss schauen, ob ein Schwingfest in diesem Jahr noch Platz hat, vielleicht werde ich im Winter einen Hallenschwinget bestreiten.
Das Management und die Medienarbeit regeln Sie zusammen mit Ihren Eltern. Wird das so bleiben?
Bis jetzt ging es gut ohne Vermarktungsagentur. Ich organisiere solche Dinge gern selber. Wir haben bewusst nicht zu viele Leute um mich herum aufgebaut, ich habe auch keinen Mentaltrainer. Dafür stehen die wenigen, mit denen ich mich umgebe, umso mehr zu mir. Ein wichtiger Mann ist der Athletik-Coach Robin Städler, der mir mit seinen alternativen Trainingsformen half, die Probleme im Rücken in den Griff zu kriegen. Sein Fitnesscenter ist wie eine zweite Stube für mich. Er verhalf einst Jörg Abderhalden zu Schwingerkönigstiteln.
Wenn wir aufs Eidgenössische zurückblicken: Wie sah Ihr Mentaltraining in Mollis aus?
Da ich an eidgenössischen Anlässen in wichtigen Gängen schon versagt habe, wusste ich, wo ich ansetzen muss. Die entscheidendste Frage war, woran ich in den härtesten Phasen eines Kampfes denke, um an meine Grenzen zu gehen. Meine engsten Bezugspersonen spielten in meinem Kopf eine bedeutende Rolle. Am Sägemehlring gab mir Vertrauen, wenn ein anderer Leistungsträger von uns Nordostschweizern in der Nähe war, was eintraf, weil Werner Schlegel jeweils vor oder nach mir kämpfte. Wir pushten uns. Zudem hörte ich während des Fests oft Musik, vor allem Songs mit viel Bass, begleitet von einer lauten, bösen oder aggressiven Stimme. Egal, ob Techno, Rap oder Metallica.
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Sind Freundschaften mit anderen «Bösen» wie mit Schlegel möglich? Früher haben Sie das Athletiktraining zusammen gemacht, er ist aber weitergezogen.
Er wollte einen eigenen Weg gehen. Dadurch wurde der Austausch, der uns gegenseitig besser machte, leider seltener. Doch die tolle Freundschaft ist hundertprozentig geblieben.
Zu einem wichtigen Coach wurde Abderhaldens Verwandter Beat Schläpfer, der die ganze Saison Gegner beobachtete und von diesen Profile erstellte. Um möglichst viele Schwingfeste zu sehen, soll er ein Abonnement bei einem Bezahlsender gelöst haben.
Das stimmt. Weil sein Know-how riesig ist, gaben ein Schwingerkollege und ich ihm jeweils hundert Franken, damit er etwas für seinen Aufwand hatte. Und Abderhalden hat uns geschliffen.
Der grösste Teil der Nordostschweizer schlief während des Eidgenössischen im Sportzentrum Kerenzerberg, Sie jedoch schotteten sich ab und wohnten bei einer Glarner Familie. Warum?
Ich machte an anderen Eidgenössischen die Erfahrung, dass ich in der Nacht auf den Sonntag schlecht schlief, weil ein Kollege daneben schnarchte oder das Bett nicht meinen Vorstellungen entsprach – und dann meine Batterien nicht voll waren, als es um die Wurst ging. Deshalb wollte ich diesmal für mich sein. Eigentlich hätte der Glarner Schwinger Roger Rychen von dieser Wohnung profitieren können, doch er überliess den Platz mir, was zeigt, was für ein guter Freund er ist.
Lebten Sie mit dieser Familie wie in einer WG?
Nein, sie respektierte meinen Wunsch nach Ruhe, was mich sehr entspannte. Und die Familie half, dass ich zwischen den beiden Wettkampftagen Kleidung, Schuhe und Schoner trocknen konnte, die ich am Sonntag wieder brauchte. Zur Wettkampfarena waren es mit dem E-Bike 15 Minuten.
2028 findet das Eidgenössische in Thun statt, wo Ihr ebenfalls schwingender Bruder Curdin wohnt. Haben Sie bei ihm schon ein Zimmer reserviert?
Da lässt sich sicher eine Lösung aufgleisen.
Falls Sie sich im Schlussgang in Mollis begegnet wären, wie wäre das gewesen?
Ziemlich normal, wir hätten uns nichts geschenkt und uns bei einer Niederlage für den anderen gefreut. Unsere Rivalität war früher grösser. Vor Mollis hatten wir uns über unsere ersten Gegner ausgetauscht, während des Fests jedoch gab es keinen Kontakt. Im Schlussgang hätte es keinen Gestellten gegeben, weil wir beide Offensivschwinger sind.
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Sie waren Zuschauer beim Schlussgang zwischen Werner Schlegel und Samuel Giger. Wie war das?
Schwierig. Ich wollte den Königstitel im Schlussgang erringen und nicht von ihrem Kampf abhängig sein. Als Zuschauer bezifferte ich meine Chance auf den Titel auf 30 Prozent. Ihr faires Verhalten schätze ich sehr.
Wegen Punktgleichheit entschied das Kampfgericht, wer in den Schlussgang einzieht. Braucht es eine neue Regel dazu?
Nein, eine Überregulierung wäre schlecht. Man soll den Menschen vertrauen und ihnen Handlungsspielraum lassen. Das macht das Schwingen aus.
2016 unterlagen Sie im Schlussgang Matthias Glarner. Beschäftigte Sie die Niederlage?
Es geht. Ich war damals zufrieden und dachte: Ich bin ja noch jung und bekomme weitere Chancen.
2017 erlitten Sie durch eine Nackenverletzung einen spinalen Schock, der für ein paar Minuten den Körper lähmte und Gedanken an ein Leben im Rollstuhl aufkommen liess. Wie war das?
Einschneidend, und es hat mir in dem Moment den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich schätze heute die Gesundheit mehr. Aber der Körper erholte sich schnell. Und wenn du danach Hunderte ähnliche Situationen erlebst, ohne dass etwas passiert, löst sich auch das Problem im Kopf. Der Bandscheibenvorfall von 2019 beschäftigte mich mehr, weil er mir für eine Weile die Freude an der Bewegung nahm.
Sie sagten, man könnte den Videobeweis testen. In welcher Form am ehesten?
Wenn man ihn kategorisch ablehnt, machen wir es uns zu einfach. Trotzdem müssen wir primär bei den Kampfrichtern ansetzen. Dass sie sich am und im Sägemehl anders positionieren und mehr Winkel abdecken. Oder dass sie Headsets tragen, damit sie sich besser untereinander verständigen können.
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Fühlen Sie sich als langjähriger Student als Exot und Intellektueller unter den Schwingern?
Gar nicht, auch wir bilden den Querschnitt der Gesellschaft ab, in dem jeder so sein darf, wie er ist.
Ihr Bruder Curdin bekannte sich 2020 öffentlich zur Homosexualität. Sie sagten, das habe Sie toleranter gemacht. Wie muss man das verstehen?
Sein Comingout sollte eigentlich gar keine Wellen schlagen in der heutigen Zeit. Aber ich bin für solche Fragen sensibler geworden und habe mein Denken und Handeln hinterfragt. Wir Schwinger haben manchmal den Tunnelblick, stehen hin und sagen: «Zack, da bin ich, so muss es sein, ich bin der Chef!» Trotzdem sollte man offen für Vielfalt sein.
In einer TV-Werbung für Ihren Hauptsponsor präsentieren Sie sich mit nacktem Oberkörper am Pool. Kostete Sie das Überwindung?
Nein, ich habe mich gefreut, dass mir die Erfahrung ermöglicht wurde. Es war keine unnatürliche Situation, alle Reaktionen waren positiv. Es war eher lustig. Für den Dreh fuhren wir mit dem Zug nach Piemont auf ein Anwesen mit Villa. Die grösste Herausforderung war, dass alle Produzenten Italienisch redeten und mir erklären wollten, wie man den deutschsprachigen Namen meines Sponsors ausspricht.
Kennen Sie den Film «Gladiator»?
Einer meiner Lieblingsfilme, den schauten wir früher im Mentaltraining. Er hat mit Schwingen zu tun, weil es um Vertrauen, innere Stärke und Vorbereiten geht.
Ihr Vater und ein Bruder waren in Rom in der päpstlichen Schweizergarde, Sie nicht. Weil es die Schwingkarriere verhindert hätte?
Auch, ja, die Bewegung wäre zu kurz gekommen. Aber ich finde die Garde eine coole Sache.
Sie durften in der Armee Spitzensport-WK besuchen, waren bekannt dafür, dass Sie mit einem Mixer einrückten, um Ihre Power-Smoothies zuzubereiten.
Genau, weil ich auch punkto Ernährung das Optimum herausholen will.
Die letzten zwei Winter verzichteten Sie auf WK. Warum?
Es hat damit zu tun, dass ich mir Gedanken machte, ob ich meinen Gegnern zu viel von meinen Stärken preisgebe.
Wenn Sie als neuer König einen Tag die Schweiz regieren könnten, was würden Sie einführen?
Ich würde das gar nicht wollen. Ich stehe zur Demokratie, Beschlüsse des Volks gilt es zu akzeptieren. Und wenn es einen Seich entscheidet, muss es das ausbaden.
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