Nato-Gipfel 2025: Europas gefährlicher Marsch in den Rüstungsrausch

Wenn Donald Trump und sein sicherheitspolitisches Team – von Vizepräsident J.D. Vance bis zur Geheimdienstkoordinatorin Tulsi Gabbard – Russland gar nicht als Gefahr für Europa und den Westen ansehen, warum fordern sie dann Verteidigungsausgaben in Höhe von fünf Prozent? Für Europa ist das fast das Dreifache des bisherigen Budgets. Was genau planen sie mit einem derart überrüsteten Europa? Aufgrund des Widerstands der US-Regierung benennt das Abschlusskommuniqué des Nato-Gipfels nicht einmal eindeutig Russland als Aggressor. Trotz jahrzehntelanger Beteuerungen von „strategischer Autonomie“ ist Europas sicherheitspolitische Realität eine andere: strukturelle Abhängigkeit von den USA. Diese hat nicht nur zu einer teuren und letztlich wenig effektiven Reaktion auf die sich anbahnende Krise und dann den Krieg in der Ukraine geführt, sondern gefährdet auch die politische und wirtschaftliche Stabilität des Kontinents.
Und mit der Rückkehr Trumps ins Weiße Haus und verschärften internationalen Spannungen dürfte sich diese Abhängigkeit sogar noch vertiefen. Bereits vor Russlands Einmarsch 2022 hatten europäische Regierungen sicherheitspolitische Entscheidungen an Washington delegiert. Selbst bei zentralen Fragen – etwa zu den Nato-Ambitionen der Ukraine – fehlte eine eigene europäische Position, die russische Interessen auch nur in Betracht zog. Stattdessen folgte man dem amerikanischen Kurs: Russland habe kein Veto. Warnungen erfahrener Diplomaten – von Henry Kissinger bis Jack Matlock – blieben ungehört. Russland beantwortete die Frage nach einem möglichen Veto dann auf seine Weise – mit Panzern und Raketen.

Mit Trumps Wahlsieg im November 2024 wurde deutlich, was mangelnde Eigenständigkeit bedeutet. Der neue US-Präsident stellte die bisherige Nato-Linie auf den Kopf. Europas Spielraum schrumpfte weiter. Der neue Kurs: Ende der Kampfhandlungen, kein Nato-Beitritt der Ukraine, keine weitere Ostausdehnung der westlichen Allianz, territoriale Zugeständnisse der Ukraine an Russland – doppelt so groß wie 2014. All das hätte man schon vor Jahren erreichen können, ohne Krieg und Zerstörung und derartige territoriale Verluste – und zu deutlich geringeren Kosten. Bis Trump wollten die Europäer kein „Einfrieren“ und mit Russland nur aus einer „Position der Stärke“ heraus verhandeln. Jetzt verlangen sie einen „bedingungslosen Waffenstillstand“ und tun alles, damit Trump sich nicht zurückzieht und Druck auf Russland aufbaut.
Russlands Angriff ist und bleibt ein eklatanter Bruch des Völkerrechts. Doch die westliche Außenpolitik, die sämtliche Warnzeichen ignorierte, war keine Realpolitik, sondern ein Ausblenden der Realität aus moralischer Überzeugung und machtpolitischer Selbstüberschätzung. Die westliche Ostpolitik ist tragisch gescheitert – und umso schriller wird nun die Rhetorik eines ewigen russischen Vernichtungswillens gegen die Ukraine, Europa und die Demokratie. Nach Trumps Forderung, die Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP zu erhöhen, verfiel Europa in Panik und Willfährigkeit. Obwohl einige Länder nicht einmal das 2014 beschlossene Zwei-Prozent-Ziel erfüllen, beeilten sich Regierungen, die neuen Vorgaben zu übernehmen. Begründet wird dies mit der „russischen Gefahr“.

In Wahrheit folgt die Aufrüstung einem transatlantischen Stereotyp und einem instinktiven Reflex, gespeist aus Angst, altem Blockdenken und der Unfähigkeit, eigene Fehlannahmen zu überdenken. Dieses Aufrüsten im Eiltempo basiert auf Worst-Case-Bedrohungsszenarien und Annahmen, die von der Realität weitgehend abgekoppelt sind. Russland ist in drei Jahren Krieg kaum mehr als 100 Kilometer in das ukrainische Staatsgebiet vorgedrungen. Die Frontlinie ist seit zweieinhalb Jahren nahezu eingefroren. Moskau verzeichnet massive Verluste, leidet unter Sanktionen und steht wirtschaftlich wie militärisch geschwächt da. Putins Krieg hat nicht nur wesentliche Teile der Ukraine, sondern auch den Kern seiner eigenen Streitkräfte zerstört. Moskau wird viel Zeit brauchen, um auch nur die eigene Verteidigungsfähigkeit auf seinem gigantischen Territorium wiederherzustellen.
Was Russland bleibt, ist hybride Kriegsführung und Terror durch Luftangriffe – und auch damit erreicht es nicht einmal seine territorialen Minimalziele in den vier östlichen ukrainischen Oblasten, die es schon im Herbst 2022 zum eigenen Staatsgebiet erklärt hat. Russland ist stark genug, um in der Ukraine einen Abnutzungskrieg gegen ebenfalls geschwächte ukrainische Streitkräfte aufrechtzuerhalten. Die Nato ist im Vergleich zur Ukraine der russischen Armee x-fach überlegen. Militärische Potenz hängt letztlich von ökonomischer Kraft ab. Russlands wirtschaftlicher Output ist vergleichbar mit dem Italiens. Die Länder, die das westliche Militärbündnis bilden, verfügen hingegen über die bei weitem größte Wirtschaftskraft der Welt – mehr als 41 Billionen Euro im Jahr 2025 (Russland nicht einmal zwei Billionen).
Die Nato gibt seit Jahren mehr für Rüstung aus als der gesamte Rest der Welt zusammen. Ihre militärische Überlegenheit gegenüber Russland ist erdrückend – und sie baut diese Dominanz entlang ihrer Ostflanke, direkt vor Russlands Haustür, zügig weiter aus.

Die europäische Antwort ist keine Strategie, sondern ein Reflex. Europa ignoriert die politischen und sicherheitspolitischen Ursachen des Ukrainekonflikts, reduziert ihn auf ein simples „Gut gegen Böse“ und klammert sich an den Schutzschirm der USA, der vielleicht schon morgen nicht mehr existiert – oder genauer gesagt von Washington zunehmend zur Disziplinierung Europas genutzt wird. Ironischerweise könnte ausgerechnet Trumps Druck ein diplomatisches Fenster öffnen – zumindest für einen Waffenstillstand in der Ukraine. Wenn neben Gesprächsangeboten und Zugeständnissen an Russland gleichzeitig auch der militärische Druck aufrechterhalten wird. Doch sicherheitspolitisch steuert Europa weiter in die falsche Richtung.
Die Schlussfolgerung ist ernüchternd: Europa versäumt es nicht nur, die Zukunft aktiv zu gestalten – es trägt sogar dazu bei, sie zu militarisieren und zu destabilisieren. Die Debatte betrifft nicht nur die Nato und die USA, sondern simultan die EU. Nur vier EU-Staaten – Österreich, Irland, Malta, Zypern – sind nicht Nato-Mitglieder, und sie haben keine nennenswerte militärische Bedeutung. Ohne sie beträgt das BIP der EU 2025 geschätzt 16 Billionen Euro: fünf Prozent davon wären 800 Milliarden Euro. Zusammen mit dem Vereinigten Königreich, der Türkei und anderen Nato-Staaten in Europa ergibt das über eine Billion Euro an Militärausgaben – mehr, als die USA heute ausgeben. In Deutschland würden fünf Prozent der Verteidigungsausgaben rund 206 Milliarden Euro bedeuten. Der Bundeshaushalt 2025 liegt bei etwa 452 Milliarden Euro. Das hieße: fast 45 Prozent der Staatsausgaben flössen in die Rüstung. In vielen EU-Ländern wäre der Anteil sogar noch höher.

Noch bevor solche Zielmarken überhaupt erreicht würden, wäre die politische und soziale Stabilität in Europa massiv gefährdet – mit unabsehbaren Folgen für die EU und vermutlich auch für die Nato. Genauso gefährdet wäre die ohnehin schon prekäre wirtschaftliche und technologische Konkurrenzfähigkeit Europas gegenüber China und den USA. Laut SIPRI gab China im Jahr 2024 1,7 Prozent seines BIP für militärische Zwecke aus. Für Forschung und Entwicklung waren es 2,68 Prozent, die USA lagen bei 3,4 Prozent. Die Europäische Union ist demgegenüber schon jetzt mit 2,2 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung im Hintertreffen.
Die zentrale Frage: Warum wollen die USA ein hochgerüstetes Europa?Was sind das für politische Entscheidungsträger, die auf einem Nato-Gipfel solchen Zielen zustimmen und ernsthaft glauben, dies diene der europäischen Sicherheit? Dabei werfen sie die naheliegendste Frage noch nicht einmal auf: Wenn die US-Regierung Russland gar nicht als sonderlich gefährlich erachtet, warum wollen sie dann ein so hochgerüstetes Europa? Die US-Regierung macht daraus kein Geheimnis. Verteidigungsminister Pete Hegseth wiederholte auf dem Treffen mit seinen Kollegen in Brüssel drei Wochen vor dem Gipfel nur, was alle US-Stellungnahmen zu den internationalen Beziehungen betonen: Die höchste sicherheitspolitische Priorität der USA ist die Eindämmung Chinas.

Diesbezüglich müsse Europa mehr tun, sagte Hegseth im Kontext der Fünf-Prozent-Forderung seiner Regierung. Aus US-Sicht hat der Pivot to China offenkundig eine militärische Dimension, und er gilt für die gesamte Nato. Europa steht an einem sicherheitspolitischen Wendepunkt. Doch statt eigene Prioritäten zu setzen, übertrumpft es sich im Aufrüstungsaktionismus – und gefährdet damit seine eigene Zukunft. Nicht strategische Souveränität, sondern politische Kopflosigkeit und Subordination prägen das Bild.
Die eigentliche Bedrohung entsteht nicht allein durch Russland oder dadurch, dass Europa von den USA in einen Krieg gegen China gezogen wird – sondern durch Europas eigene Unfähigkeit, in seine wirtschaftliche Zukunft und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu investieren. Auf gemeinsame Sicherheitsinteressen kann man sich im Raum zwischen Portugal und Estland nicht einigen. Zu einer eigenständigen, realitätsnahen Sicherheitsarchitektur auf dem eigenen Kontinent ist man offenbar nicht fähig. Statt eine Außenpolitik zu verfolgen, die auf Kooperation und Rüstungskontrolle setzt, fällt Europa zurück in alte Reflexe, Denkmuster und Abhängigkeiten – und riskiert damit nicht nur seine politische und sicherheitspolitische, sondern auch seine wirtschaftliche Selbstbehauptung.
August Pradetto ist emeritierter Professor für Internationale Politik an der Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr Hamburg.
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