Karl Schlögel über den tödlichen Ernst des Schönen – eine Geschichte der ukrainischen Literatur war überfällig


Global Images Ukraine / Getty
Es hat eines Krieges bedurft, um die Ukraine, die für die meisten Terra incognita gewesen war, auf die mentale Landkarte der Europäer zu bringen. Allabendliche Nachrichten aus den von russischen Raketen getroffenen Städten boten Anschauungsunterricht vom Kriegsschauplatz in nächster Nachbarschaft – Osterweiterung des Horizonts. 1995 konnte der amerikanische Historiker Mark von Hagen noch die Frage stellen, ob die Ukraine eine eigene Geschichte habe. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 haben die Europäer dazugelernt.
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Eine wortmächtige Kohorte ukrainischer Dichter und Schriftsteller ist seither noch intensiver in europäischen Städten unterwegs, um einem ahnungs- und fassungslosen Publikum zu vermitteln, was in ihrer geschundenen Heimat vor sich geht.
Dass solches in der Geschichte der ukrainischen Nationswerdung nicht zum ersten Mal geschieht, kann der interessierte Leser in der neuen ukrainischen Literaturgeschichte lernen, die von dem in St. Gallen lehrenden Slawisten Ulrich Schmid initiiert und herausgegeben wurde. Unter seiner Ägide haben sich intime Kenner der ukrainischen Literatur und Kultur gefunden, um einen neuen Blick auf den «literarischen Prozess» auf den geschichtlichen Territorien der Ukraine zu werfen.
Autorinnen und Autoren haben mit diesem Band ein Werk vorgelegt, das nicht nur an vorangegangene, freilich schon geraume Zeit zurückliegende Darstellungen – wie die aus der Feder Dmitro Tschizewskis – anknüpft, sondern auch der neuesten Forschung und der jüngsten Entwicklung Rechnung trägt. Es ist beglückend zu sehen, was eine Literaturgeschichte, welche die strukturalistischen und dekonstruktivistischen Exerzitien hinter sich gebracht hat, doch zu leisten vermag und wie sehr sie den Blick weitet auf ein Thema, das komplexer ist, als manche postkolonialen Diskurse vermuten lassen.
Von der Kiewer Rus bis in die GegenwartDies geschieht in einer einleitenden knappen Bestandsaufnahme und Beschreibung des eigenen Ansatzpunktes, der den literarischen Prozess als Teil der ukrainischen Nationsbildung in seinen europäischen Bezügen, transnationalen Verflechtungen und Überlappungen betrachtet. In achtzehn Kapiteln folgen die Autoren der literarischen Produktion von der Kiewer Rus bis in die Gegenwart. Sie orientieren sich dabei weitgehend an den bekannten historischen Zäsuren und Periodisierungen, tragen aber der Zugehörigkeit ukrainischer Territorien zu unterschiedlichen Herrschaftsverbänden Rechnung – Grossfürstentum Litauen, Königreich Polen, Zarenreich, Donaumonarchie.
Das ganze Spektrum literarischer Formen und Genres kommt in den Blick – Prosa, Lyrik, Romane, Dramen, Epos, Essay, Chronistik, Hagiografie, Reiseberichte, sogar Massenliteratur. Die Darstellungsform erlaubt es, zahlreiche überaus informative Einzelporträts mit den langen Linien literarischer Strömungen und Stilepochen zusammenzubringen. So wird die Sonder- und Auseinanderentwicklung in den jeweiligen Imperien nachgezeichnet. Im Falle der «verspäteten Nation» Ukraine mit ihren Brüchen und wechselnden Grenzziehungen soll die «Kontinuität der Diskontinuität» sichtbar bleiben.
Die Autoren setzen ihre eigenen Akzente. Die Zeit nach dem Mongoleneinfall wird als das «Schweigen der ukrainischen Literatur» bezeichnet. Ausführlich kommt zum Zug die kulturelle Bedeutung des Kosaken-Hetmanats, die Strahlkraft von geistigen und geistlichen Zentren wie der Mohila-Akademie und des Barock mit der glanzvollen Gestalt Hrihori Skoworodas.
Der Schwerpunkt – auch dem Umfang nach – liegt auf der Herausbildung der sich von der russischen «Leitkultur» lösenden ukrainischen Nationalbewegung im frühen 19. Jahrhundert, deren Aktivitäten in Form von Bruderschaften und literarischen Zirkeln und der Etablierung Taras Schewtschenkos als Nationaldichter.
Auch Zensur und Verbot der ukrainischen Sprache, formuliert in dem berüchtigten Walujew-Zirkular von 1863 («Eine kleinrussische Sprache gab es nie, gibt es nicht und kann es nicht geben») und dem Emser Ukas von 1876, können die Herausbildung einer eigenständigen Literatur nicht aufhalten. Dabei handelte es sich keineswegs nur um die Auffassung der zaristischen Bürokratie, bis weit in die russische Intelligenzia und bis in die Gegenwart reiche der russische «Imperial-Patriarchalismus».
Für Puschkin waren die Ukrainer nur ein «singendes und tanzendes Volk», der radikaldemokratische Literaturkritiker Belinski schimpfte Schewtschenko einen Esel, und der Dichter und Nobelpreisträger Joseph Brodsky verfasste noch in sowjetischen Zeiten ein von Verachtung strotzendes Schmähgedicht auf die Ukraine.
Unübersehbar wird die Verflechtung des ukrainischen literarischen Prozesses mit dem gesamteuropäischen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Ukrainische Schriftsteller hatten teil an den internationalen Strömungen des Naturalismus, Symbolismus, Impressionismus, unter ihnen neben Iwan Franko herausragende Frauengestalten wie Lesja Ukrajinka und Olha Kobyljanska.
Leiden ohne EndeWas im 20. Jahrhundert auf die Ukraine zukommen würde, ahnt in dem kurzen Augenblick der Gründung der selbständigen Ukrainischen Volksrepublik 1918 der Schriftsteller und Politiker Wolodimir Winnitschenko: «Wer die ukrainische Geschichte lesen will, muss Brom nehmen, um zu ertragen, wie diese unglückliche, gedemütigte und unterdrückte Nation während ihrer Existenz als Staat (oder besser: als Teilstaat) von allen Seiten angegriffen wurde: von den Polen, den Russen, den Tataren, den Schweden. Die ganze Geschichte ist eine ununterbrochene Folge von Aufständen, Kriegen, Brandstiftungen, Hungersnöten, Anschlägen, Militärputschen, Intrigen, Kämpfen und Bestechungen. Geschieht das Gleiche nicht auch heute?»
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Fast, als hätte Winnitschenko damit auch schon die Erfahrungen der Ukraine, ja die ganz Europas im 20. Jahrhundert vorausgeahnt: Weltkriege, Bürgerkriege, Pogrome, Staatszusammenbrüche und ethnische Säuberungen. Der Band zeichnet das Ende des russischen Imperiums, die kulturelle Blüte der 1920er Jahre, aber auch die Sequenz von Katastrophen, die mit dem Holodomor, der Ermordung der Träger der «ukrainischen Renaissance» und der politischen Führung in den 1930er Jahren und schliesslich mit der deutschen Besetzung verbunden sind.
Es werden Namen und Werke genannt, die endlich auch ausserhalb der Ukraine zur Kenntnis genommen werden sollten: Hier erweist sich – nicht zuletzt durch die Hinweise auf weiterführende Literatur und Übersetzungen – der Band als Augenöffner, als Wegweiser in das Territorium einer weithin in Europa vergessenen, wenn je zur Kenntnis genommenen Moderne. Namen wie Mikola Chwilowi («Weg von Moskau»), Walerjan Pidmohilni, Majk Johansen, Mikola Kulisch, Les Kurbas oder Bilder des ukrainischen Urbanismus («Wie man Charkiw in Berlin verwandelt») werden aus dem Abseits geholt.
Dies gilt auch für Autoren und Texte, die uns in die vom Hunger verheerten Dörfer oder die von den Deutschen besetzten Städte führen, die aber erst nach dem Krieg im Exil geschrieben werden konnten (Wasil Barka und Ulas Samtschuk). Literatur wird hier zum Stellvertreter von Geschichtsschreibung, zum Zeugnis im «Museum der vergessenen Geheimnisse» (Oxana Sabuschko).
Erzählt wird weiter die Geschichte der spektakulären Häufung von Talenten in einer Schriftstellergeneration, die «nach Tschernobyl» und in der unabhängig gewordenen Ukraine ein neues Kapitel eröffnete. Hier setzt eine Neuvermessung der literarischen Topografie ein, hier macht sich die Nähe zum unruhigen Polen und zu den alten Metropolen Galiziens bemerkbar, zur Karpatenwelt der Huzulen und Lemken. Hier mischen sich, inspiriert vom «Patriarchen der Postmoderne» Juri Andruchowitsch, im «Stanislauer Phänomen» und in Bubabu (Burlesque-Balahan-Buffonade) Underground, Dadaismus, magischer Realismus, Surrealismus, Pop-Literatur, ein in Europa Ende des 20. Jahrhunderts wohl einzigartiges Biotop.
Hier wäre Gelegenheit gewesen, auch auf die Rolle des untergegangenen Czernowitz und den Anteil der jüdischen und jiddischen Literatur am «literarischen Prozess der Ukraine» zu verweisen.
Die Kraft, Zeugnis abzulegenDem westukrainischen Milieu steht ein ganz anderes am anderen Ende der Ukraine gegenüber, die «ostukrainische Trümmerromantik», die mit dem frühen Serhij Zhadan in Verbindung gebracht wird. Doch für eine Entspannung im Verhältnis zwischen Macht und Literatur ist die Zeit noch nicht reif. Schriftsteller und Dichter wurden so wenig in Ruhe gelassen wie die Nation als ganze.
Als der Maidan losbrach, wurden sie hineingerissen in die Volks- und Freiheitsbewegung und erwiesen sich bald als wichtige Stimme im Lande wie im übrigen Europa. Neben den Korrespondenten und Kriegsberichterstattern wurden sie über Nacht zu Vermittlern und Übersetzern der überwältigenden Erfahrung von Gewalt und Barbarei, an der noch die zupackendste Sprache zu scheitern drohte.
«Wenn du tagelang vor dem verschütteten Keller eines Hochhauses ausharrst und hörst, wie drinnen deine Kinder und Enkel schreien, du sie aber nicht herausholen kannst, ist Poesie fehl am Platze. Die Geschehnisse sind ein starker Stoff, darüber könnte ein europäischer Autor ein Buch für die Ewigkeit schreiben, das noch und noch gelesen wird. Aber jemand, der das selbst erlebt hat, wird dieses Buch nicht schreiben. Denn keiner hat die Kraft, all das durchzustehen und anschliessend anderen diesen Schmerz zu erklären», sagte die ukrainische Schriftstellerin Halina Kruk im Juni 2022 nach der russischen Invasion in die Ukraine.
Aber die Dichter und Schriftsteller sind keineswegs verstummt, sie haben vor der Grausamkeit der russischen Kriegführung nicht kapituliert. Manche, unter ihnen wiederum viele Frauen, haben dafür mit ihrem Leben bezahlt wie Wiktoria Amelina, die im Sommer 2023 in Kramatorsk von russischen Raketen getötet wurde, während sie russischen Kriegsverbrechen auf der Spur war.
Der Band, der alle Aussicht hat, zum Standardwerk für all jene zu werden, die sich auf den Weg machen, den bisher weithin unerschlossenen literarischen und kulturellen Kontinent der Ukraine zu erschliessen, ist auch eine Hommage an die Tapferkeit der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, der lebenden und der toten.
Ulrich Schmid (Hg.): Ukrainische Literaturgeschichte. Verlag J. B. Metzler, Berlin 2025. 376 S., Fr. 49.90.
Karl Schlögel, geboren 1948, ist der Doyen unter den deutschsprachigen Osteuropahistorikern und ist mit vielen originellen und bedeutenden Publikationen hervorgetreten. Er erhält dieses Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der am 19. Oktober in der Frankfurter Paulskirche überreicht wird.
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