Als Köpfe «wie Melonen rollten» – vor über 100 Jahren wurde die Ukraine schon einmal zur Terror- und Todeszone


Das Mariupol des frühen 20. Jahrhunderts hiess Perekop. Die Stadt an der Nordspitze der Krim wurde 1920 beim Sturm der Roten Armee auf die von Weissen Truppen gehaltene Festung komplett ausradiert, die Zivilbevölkerung niedergemetzelt. Der ukrainische Modernist Maik Johansen, Nachfahre eingewanderter Skandinavier, heroisierte den Kampf der Bolschewiki «auf den Todesfeldern von Perekop» vier Jahre später in Versen: «Das Grauen hallt nach in Kupfer und Erz / Sie leben fort in der Arbeiter Herz.» Johansen wurde 1937 unter Stalin liquidiert. Der Dichter und Romancier ist einer von zwei Dutzend ausserhalb der Ukraine kaum bekannten Autoren, die der Sammelband zum Ersten Weltkrieg «Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung» erstmals auf Deutsch präsentiert.
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Die Weltkriegsschlachten waren in Russland nach den Revolutionen von 1917 in einen Bürgerkrieg übergegangen. Auf ukrainischem Territorium bekämpften sich Anhänger des gestürzten Zarenregimes, revolutionäre Bolschewiki und die «Schwarze Armee» des Anarchisten Nestor Machno, gegen welche die Parteigänger einer unabhängigen und demokratischen Ukraine einen schweren Stand hatten. Die konkurrierenden Loyalitäten prägten auch die Literatur auf schmerzhafte Weise. Ein allseits anschlussfähiges Kriegs- oder Antikriegsepos, das etwa mit Remarques «Im Westen nichts Neues» vergleichbar wäre, gibt es in der Ukraine nicht.
Eroberungen, Bauernaufstände und PogromeAls der Erste Weltkrieg am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien begann, existierte noch kein ukrainischer Staat. Die meisten Ukrainer waren Bürger der Habsburgermonarchie oder des Zarenreichs – und standen sich an der Front oft direkt gegenüber. Der Untergang der beiden Imperien hatte nach dem Krieg die Neu- oder Wiederbegründung einer Reihe von Nationen wie des Königreichs Jugoslawien, Polens, der Tschechoslowakei oder auch der baltischen Staaten zur Folge.
Weniger glücklich verliefen die Autonomiebestrebungen der Ukrainer. Zwar erklärte die Centralna Rada in Kiew nach längerer Vorbereitungszeit im Januar 1918 die volle Unabhängigkeit der neuen Ukrainischen Volksrepublik. Deutschland und Österreich, die Interesse an der «Kornkammer» Ukraine hatten, unterstützten die junge Kiewer Republik sogar mit Soldaten. Doch als die bürgerliche Regierung nach nicht einmal einem Jahr von den Bolschewiki gestürzt wurde, zogen die Mittelmächte Anfang 1919 ihre letzten Soldaten ab.
1922, nach Jahren weiterer Regierungswechsel und gegenseitiger Rückeroberungen, ausländischer Einmischung, von Bauernaufständen und Pogromen, wurde die Ukraine als «Ukrainische Sozialistische SSR» endgültig der Sowjetunion eingegliedert. Einige Randgebiete gingen an andere Staaten. Rumänien marschierte 1918 in die Nordbukowina ein. Das bis 1918 ungarische Transkarpatien rund um Uschgorod wurde der Tschechoslowakei zugeschlagen, und dem wiedergegründeten Polen war es gelungen, im ukrainisch-polnischen Krieg 1919 das zuvor österreichische Ostgalizien mit Lwiw, dem damaligen Lemberg, zu erobern.
Schon die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs hatten die Ukrainer zermürbt. Doch Osip Makowei, Kriegsteilnehmer in der österreichischen Armee, berichtet in «Die stille Stunde» (1921) von einem Hoffnungsschimmer, einem Lili-Marleen-Moment an der Dnister-Front 1915. Die Soldaten sind tief ergriffen, als plötzlich eine Flöte erklingt: «Es ist unklar, wo der Musiker sitzt. (. . .) Manche Dnister-Schluchten haben eine so gute Akustik, dass man ein normales Gespräch Hunderte Schritt, die Flöte mehrere Kilometer weit hört. (. . .) Offenbar hört man sie auch in den entfernten Schützengräben und vergisst das Schiessen.»
Ein Gemetzel unter BrüdernMit anderen literarischen Mitteln als Makowei fängt die deutschstämmige Autorin Olha Kobiljanska in ihrer «Kriegsskizze» «Ein böser Traum» (1917) das kollektive Erlebnis des Kriegs ein. Ihr expressionistisches Prosastück formt den Schmerz der in den Dörfern zurückgebliebenen Familien und das Grauen in den Schützengräben, die «bösen Blicke» und die «breiige Masse» der Leichen, zu einem theatralischen Chor. Die gesprengte Syntax erinnert an ihren deutschen Zeitgenossen August Stramm.
Die Auflösung der Form findet sich auch bei Michail Semenko, dem Begründer des ukrainischen Futurismus. Semenko, der während des Weltkriegs in Wladiwostok stationiert war, schrieb 1917: «Schrauben schäumen in Strudeln. / Die Bucht wogt zornig und blind. / Gleich geschwind / reckt man über der Reede die Äxte.» Im Suchfeld von Technikbegeisterung, Elementar-Metaphorik und Gewaltlust experimentieren auch die Lyriker Michailo Lebedinez, Leonid Simni und Mikola Tereschtschenko.
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Mit wachsendem Abstand zum Krieg wird die Zerrissenheit der Gesellschaft ein Schlüsselthema. In Mikola Chwilowis verstörender Erzählung «Die Mutter» (1927) kämpfen die Brüder Ostap und Andri in der Weissen beziehungsweise Roten Armee gegeneinander, während ihre Mutter verzweifelt. Als der Bürgerkrieg schliesslich die Heimatstadt der Familie erreicht, bringt der politische Kommissar Andri die Mutter nachts im Elternhaus um, in dem Glauben, er erschlage den Bruder.
Auch in Juri Janowskis Steppen-Novelle «Der doppelte Kreis» (1935), die «sozrealistische» Züge trägt, dominiert der Bruderzwist. Während des Bürgerkriegs treffen bei einer Schlacht im August 1919 fünf Brüder aufeinander, die zu unterschiedlichen Kriegsparteien gehören. Sieger des Gemetzels, bei dem die Köpfe «wie Melonen vom Hals fliegen», ist der Kommunist Iwan. Über den Brudermörder heisst es am Schluss lapidar: «Iwan Polowetz verlor drei Brüder – ‹einer Familie, (. . .) aber nicht einer Klasse›.» Allen in der Schlacht unterlegenen Kämpfern ist der Tod sicher: «Einige streckten flehend die Arme aus, und die Arme wurden abgehauen, einige reckten ihre staub- und schweissverschmierten Gesichter gen Himmel, die Gesichter wurden ihnen zersäbelt, sie fielen zu Boden und frassen in Todessehnsucht staubige Erde, sie wurden zerstückelt und von den Pferden zu Brei getrampelt.»
Unerwünschte Re-UkrainisierungDie hier versammelten Schriftsteller stehen für eine Blüte der ukrainischen Kultur – bis 1905 war die ukrainische Sprache im Zarenreich noch verboten gewesen. Möglich geworden war dies auch durch Lenins Förderung der Nationalkulturen, die «Korenisazija» («Einwurzelung»). Diese Politik verfolgte die Absicht, über die jeweiligen Muttersprachen die ideologische Bindung noch tiefer zu verankern und letztlich die Sowjetisierung voranzutreiben.
Da sie jedoch eine unerwünschte Re-Ukrainisierung zur Folge hatte, führte Stalin 1932/33 in der Ukraine eine künstliche Hungersnot, heute Holodomor genannt, herbei und liess die ukrainischen Intellektuellen in grossem Stil ausschalten. Als eine der grössten einzelnen Mordaktionen gegen ukrainische Kulturschaffende gilt die Erschiessung von über 1000 Menschen rund um den 20. Jahrestag der Oktoberrevolution am 3. November 1937 in Karelien. Mikola Chwilowi, der Stalin besonders verhasste bekannteste Autor, beging 1933 demonstrativ Selbstmord im Künstlerhaus Slovo in Charkiw. Einem Ort, den Stalin der sowjetukrainischen Kulturelite erst 1929 hatte erbauen lassen.
Der Band versammelt vielfältige ukrainischsprachige Stimmen aus der Zwischenkriegszeit, auch solche, die sich plötzlich als Minderheit im «Ausland» wiederfanden, etwa im polnisch gewordenen Ostgalizien. Dagegen kommen jüdische Autoren trotz mindestens 30 000 Opfern – allein im Bürgerkrieg – leider nicht zu Wort, obwohl einige auch auf Ukrainisch schrieben. Das jüdische Schicksal ist nur indirekt vertreten, etwa in der Erzählung «Der Fernspäher» (1935) von Iwan Lipa. Darin schlägt sich ein ukrainischer Nationalist im Bürgerkrieg geschickt durch die feindlichen Linien und rettet nebenbei eine jüdische Familie vor dem «spontanen Volkszorn».
Fünf SchicksaleAuch eine zweite Anthologie, «Dichtung der Verdammten», stellt ukrainische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit vor, die heute zum literarischen Kanon des Landes zählen: die fünfköpfige Kiewer Gruppe der «Neoklassiker». Drei der Dichter, Michailo Drai-Chmara, Pawlo Filipowitsch und Mikola Serow, wurden in den dreissiger Jahren auf die berüchtigten Solowki-Inseln deportiert. Ein vierter, Maksim Rilski, überlebte, indem er nurmehr Tendenzdichtung produzierte. Der fünfte, der Deutsch-Ukrainer Oswald Burghardt, rettete sich 1931 nach Deutschland und stellte die vorliegende Anthologie samt Übersetzungen zusammen. Das «Verbrechen» der Neoklassiker hatte darin bestanden, dass sie einem ästhetischen Ideal verpflichtet waren, das an antike und europäische Traditionen anknüpfte, statt die Kollektivierung zu besingen.
Rund hundert Jahre nach Welt- und Bürgerkrieg sind Vertreibungen und Vergewaltigungen, Folter und Massaker in der Ukraine wieder an der Tagesordnung. Wieder fürchten ukrainische Schriftsteller um ihr Leben und ringen um die Sprache, nachdem sich der Krieg «wie ein Wellenbrecher in den Raum hineingeschoben» hat. So formuliert es Serhij Zhadan in einem Essay aus dem Jahr 2017, der die Anthologie «Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung» abschliesst: «Die Luft änderte sich. Und sie änderte auch die Sprache.»
Brunner/Dathe/Kersten/Kratochvil/Nagel (Herausgeber und Übersetzer): Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung. Eine Anthologie ukrainischer Literatur des Ersten Weltkriegs. Arco-Verlag, Wuppertal 2025. 554 S., Fr. 30.–.
Oswald Burghardt: Dichtung der Verdammten. Eine Anthologie ukrainischer Dichtung, ausgewählt und übertragen von Oswald Burghardt (Jurij Klen). Herausgegeben von Nataliia Kotenko-Vusatyuk und Andrii Portnov. Arco-Verlag, Wuppertal 2025. 176 S., Fr. 20.–.
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