Biodiversitätsrisiken und Versicherungen: Über 30 % des europäischen Vermögens hängen von der Natur ab


Bis 2025 werden mehr als 30 % der Unternehmensanleihen- und Aktienengagements europäischer Versicherungsunternehmen direkt von mindestens einer Ökosystemleistung abhängig sein. Dies geht aus dem „Report on Biodiversity Risk Management by Insurers“ hervor, dem ersten europäischen Bericht zum Biodiversitätsrisikomanagement im Versicherungssektor, der von der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung ( EIOPA ) veröffentlicht wurde. Diese alarmierende Zahl unterstreicht die Anfälligkeit des Versicherungssektors gegenüber der Naturkrise und die dringende Notwendigkeit, biodiversitätsbezogene Risiken in Portfoliomanagement und Underwriting-Strategien zu integrieren.
Der Bericht basiert auf Marktdaten, öffentlichen Konsultationen, aktualisierten europäischen Vorschriften und neuen Best Practices der Branche. Ziel des Berichts war es zu untersuchen, inwieweit und mit welchen Instrumenten Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen in Europa bereits Biodiversitätsrisiken identifizieren, messen und managen. Trotz der Herausforderungen bei der Bewertung von Biodiversitätsrisiken aufgrund ihrer Komplexität und Vernetzung mit anderen Umweltrisikofaktoren zeigt sich, dass es vielversprechende Marktpraktiken bei Versicherungsunternehmen gibt. Gleichzeitig identifiziert das Dokument Bereiche, in denen weiteres Engagement unerlässlich ist, um die Reaktionsfähigkeit des Sektors auf Biodiversitätsrisiken in Zukunft zu stärken.
Der Verlust der biologischen Vielfalt und die Verschlechterung der Ökosysteme gelten mittlerweile als erhebliche makroökonomische Risiken. Das Weltwirtschaftsforum zählt sie zu den drei größten langfristigen Risiken und betont, dass über 50 % des globalen BIP direkt von der Natur und ihren Ökosystemleistungen abhängen. Insbesondere wasserbezogene Risiken könnten 7–9 % des globalen BIP ausmachen und erhebliche Auswirkungen auf das verarbeitende Gewerbe haben. Auch die Landwirtschaft ist stark gefährdet: Schätzungsweise 14–18 % der Produktion sind durch Wasserknappheit gefährdet, während bis zu 12 % der landwirtschaftlichen Produktion durch den Rückgang der Bestäuber gefährdet sein könnten.
Nach Schätzungen der OECD gingen zwischen 1997 und 2011 weltweit jährlich Ökosystemleistungen im Wert von 4 bis 20 Billionen US-Dollar durch Veränderungen der Bodenbedeckung und 6 bis 11 Billionen US-Dollar durch Bodendegradation verloren. Werden keine Gegenmaßnahmen ergriffen, könnte der künftige jährliche Verlust an Ökosystemleistungen 479 Milliarden US-Dollar erreichen, wobei die kumulierten Auswirkungen bis 2050 auf über 9,8 Billionen US-Dollar geschätzt werden.
Der EIOPA-Bericht basiert auf einem spezifischen Mandat im Rahmen der Solvency-II-Richtlinie, die 2025 geändert wurde und Versicherer dazu verpflichtet, Risiken im Zusammenhang mit dem Verlust der biologischen Vielfalt in ihren ORSA-Prozess (Own Risk and Solvency Assessment) zu integrieren.
Der Bericht zeigt, dass das Bewusstsein der Versicherungsbranche für biodiversitätsbezogene Risiken wächst. Etwa jedes fünfte Unternehmen erwähnt die Biodiversität in seiner Risiko- und Solvenzbewertung (ORSA), wobei dies bei großen Unternehmen häufiger der Fall ist . Die Bewertungen sind jedoch nach wie vor weitgehend qualitativer Natur und konzentrieren sich in erster Linie auf Reputationsaspekte im Zusammenhang mit Investitionen oder Versicherungsaktivitäten, die potenziell umweltschädlich sind.
Unternehmen erkennen den Verlust der biologischen Vielfalt daher als erhebliches, neu entstehendes Risiko an, tun sich jedoch schwer, dies in messbare finanzielle Auswirkungen umzusetzen . Der Sektor befindet sich noch in der Anfangsphase der Identifizierung, Messung und Steuerung dieses Risikos, und die durchgeführten Analysen sind noch nicht systematisch oder in finanzielle Risikomodelle integriert.
Das Bild wird durch den sogenannten „Klima-Natur-Nexus “ noch komplizierter: Der Verlust der biologischen Vielfalt kann die Auswirkungen von Naturkatastrophen verstärken, indem er beispielsweise die Absorptionsfähigkeit natürlicher Barrieren gegenüber Extremereignissen verringert, während der Klimawandel selbst eine wesentliche Ursache für den Verlust der biologischen Vielfalt ist. Dieser Zusammenhang erschwert eine klare Abgrenzung der beiden Phänomene und führt zu Unsicherheit darüber, ob sie getrennt oder im Rahmen eines integrierten Ansatzes bewertet werden sollten.
Darüber hinaus tragen das Fehlen gemeinsamer globaler Parameter , die regionalen Besonderheiten der Ökosysteme und das Fehlen standardisierter Methoden zur zuverlässigen Schätzung der finanziellen Belastung durch das Risiko des Verlusts der biologischen Vielfalt dazu bei, dass eine wirksame Bewertung komplexer wird.
Der Bericht hebt außerdem hervor, dass quantitative Methoden zur Bewertung von Biodiversitätsrisiken im Vergleich zu den für Klimarisiken entwickelten Methoden zwar noch in den Kinderschuhen stecken, es aber bereits konkrete Möglichkeiten für bedeutende Maßnahmen gibt, insbesondere durch qualitative Ansätze. Auf der Grundlage der gesammelten Erkenntnisse schlägt EIOPA eine Reihe strategischer Interventionsbereiche vor, die darauf abzielen, die Fähigkeit der Versicherungsbranche zu stärken, Risiken im Zusammenhang mit dem Verlust der biologischen Vielfalt und ganz allgemein mit Naturgefahren strukturiert zu identifizieren, zu bewerten und zu managen .
Der erste Interventionsbereich umfasst die Stärkung der Koordinierung zwischen Aufsichtsbehörden, politischen Entscheidungsträgern und Interessengruppen mit dem Ziel, Synergien bei der Ermittlung von Handlungsprioritäten, der Verbesserung von Datenqualität und -erhebung sowie der Entwicklung geeigneter Risikomodelle und -szenarien zu schaffen. In diesem Zusammenhang schlägt EIOPA gezielte Interventionen in Sektoren und Vermögenswerten vor, die besonders anfällig für den Verlust von Ökosystemleistungen sind, wobei den vom IPBES identifizierten Ursachen (Land- und Wassernutzung, Umweltverschmutzung, Übernutzung von Ressourcen, invasive Arten) besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Darüber hinaus wird die Unterstützung von Investitionen und Versicherungsschutz gefördert, die den Erhalt oder die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt durch naturbasierte Lösungen fördern, sowie eine stärkere Standardisierung von Messgrößen und die Open-Source-Verbreitung nützlicher Daten und Instrumente.
Der zweite Interventionsbereich betrifft Initiativen zur umfassenden Bewältigung des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und Biodiversitätsverlust . Angesichts der sich gegenseitig verstärkenden Effekte dieser beiden Bereiche schlägt EIOPA vor, ökologische Faktoren in Naturkatastrophenmodelle zu integrieren, die sich bisher auf physische Ereignisse beschränken, insbesondere bei neu auftretenden Risiken wie Dürre oder Wasserknappheit. Gleichzeitig können Investitionen in naturbasierte Lösungen dazu beitragen, die Versicherungslücke im Naturkatastrophenfall zu schließen, was sowohl ökologische als auch finanzielle Vorteile mit sich bringt.
Der dritte Bereich schließlich betrifft die Stärkung der technischen und institutionellen Kapazitäten durch einen strukturierten Dialog zwischen Aufsichtsbehörden, Branchenakteuren und der Wissenschaft. EIOPA schlägt die Organisation von Workshops zum Austausch von Wissen, Instrumenten und Best Practices vor. Ziel ist es, ein gemeinsames und praxisorientiertes Verständnis der biodiversitätsbezogenen Risiken und ihrer Auswirkungen auf den Versicherungssektor zu entwickeln.
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