Eine gigantische molekulare Karte ebnet den Weg zur Heilung von Alzheimer und Parkinson.

Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson sind mit 57 Millionen Betroffenen weltweit eine der größten Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit in den Industrieländern. Allerdings sind eine frühzeitige Diagnose schwierig und die Behandlungsmöglichkeiten begrenzt . Nach Jahrzehnten der Forschung birgt ihre Biologie noch immer viele Rätsel. Um das Verständnis zu beschleunigen, wurde das Global Neurodegeneration Proteomics Consortium ( GNPC ) gegründet, eine Organisation, die von öffentlich-privaten Partnerschaften, staatlichen Institutionen, Stiftungen und Pharmaunternehmen finanziert wird. Heute veröffentlicht das Konsortium die ersten Ergebnisse einer gewaltigen Anstrengung, die in mehreren Studien in den Fachzeitschriften Nature Medicine und Nature Aging vorgestellt wurden.
Das Konsortium, zu dem 23 Forschungsgruppen aus aller Welt Daten beigesteuert haben, versucht, die enorme Menge an Informationen aus über 40.000 Flüssigkeitsproben wie Blutplasma und Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit zu nutzen. Mit diesen Proben konnten 250 Millionen Proteinmessungen durchgeführt werden. Mithilfe dieser Daten erstellte das Konsortium Karten, um die Proteinhäufigkeit bei verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen im großen Maßstab zu vergleichen und diese besser zu definieren und zu bekämpfen.
„Die ersten Analysen der ersten Version dieses Datensatzes haben bereits grundlegende Erkenntnisse geliefert. Sie haben gezeigt, dass Alzheimer, Parkinson und die frontotemporale Demenz eine Reihe gemeinsamer Mechanismen der Immunreaktion und Entzündung aufweisen. Jede Krankheit weist jedoch auch einzigartige biologische Mechanismen auf, die eine Unterscheidung ermöglichen“, erklärt Carlos Cruchaga, Forscher an der Washington University in St. Louis (USA) und einer der Konsortiumsleiter.
Bei Alzheimer beispielsweise wurde die wichtige Rolle des Proteins ARPC2, das für die Erhaltung von Form und Struktur der Neuronen verantwortlich ist, beobachtet. Bei Parkinson wurden deutliche Veränderungen der Immunantwort festgestellt. In dieser ersten Phase der Arbeit wurden zudem Proteine entdeckt, die sich bis zu 20 Jahre vor dem Auftreten der ersten Symptome verändern. Zudem wurden proteomische Profile im Zusammenhang mit gesundem Altern entdeckt, die uns helfen könnten zu verstehen, was vor Neurodegeneration schützt.
Analysen haben zudem Zusammenhänge zwischen der Alterung verschiedener Organe und neurodegenerativen Erkrankungen festgestellt. Bei Alzheimer und frontotemporaler Demenz zeigte sich, dass das Gehirn mancher Menschen älter erscheint als es sein sollte und ein höheres Risiko für die Erkrankung besteht. Bei Parkinson wurde zudem ein Zusammenhang mit der Muskelalterung festgestellt, was darauf hindeutet, dass Neurodegeneration nicht nur ein Gehirnphänomen ist, sondern mit der allgemeinen Alterung zusammenhängt.
Blutproteinanalysen können auch helfen, die Heterogenität dieser Erkrankungen zu verstehen. „Es gibt Menschen, bei denen die Krankheit trotz Amyloidprotein im Gehirn nicht fortschreitet, und andere, bei denen sie fortschreitet. Wir wissen nicht, was diesen Unterschied ausmacht“, erklärt Marc Suárez-Calvet, Forscher am Barcelona βeta Brain Research Center (BBRC) und Co-Autor einer der heute veröffentlichten Studien. „Die vorläufigen Daten zeigen deutliche Unterschiede in der Zusammensetzung der Blutproteine zwischen Menschen mit und ohne Krankheit“, sagt er.
Eine der Studien untersuchte auch die Rolle des APOE ε4-Gens, das traditionell mit dem Alzheimer-Risiko in Verbindung gebracht wird, und fand heraus, dass es auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson und Amyotropher Lateralsklerose (ALS) eine wichtige Rolle spielt. Die Forscher identifizierten eine Proteinsignatur im Blut und in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit von Betroffenen, die durch eine chronische Aktivierung des Immunsystems und erhöhte Entzündungsreaktionen gekennzeichnet ist. Dies deutet darauf hin, dass dieses Gen nicht nur das Alzheimer-Risiko erhöht, sondern auch eine allgemeine biologische Anfälligkeit darstellt, die in Kombination mit Lebensstilfaktoren verschiedene Arten neurodegenerativer Erkrankungen auslösen kann.
Um die Diagnose dieser Erkrankungen zu verbessern, wurde eine Signatur von 256 Proteinen im Blutplasma entwickelt, um den Schweregrad der Demenz zu bestimmen. Die Signatur, die Biomarker für Neuroplastizität und Immunsystemaktivierung enthält, deutet darauf hin, dass bei all diesen Erkrankungen über klinische Diagnosen hinaus biologische Prozesse des kognitiven Abbaus vorliegen, die objektiv und nichtinvasiv gemessen werden können.
Die Ergebnisse liefern einige interessante Schlussfolgerungen. Eine Studie zeigte, dass die Blut-Hirn-Schranke, die das Gehirn vor schädlichen Substanzen schützt, mit zunehmendem Alter durchlässiger wird und so mehr Proteine aus dem Blut ins Gehirn gelangen lässt. Interessanterweise war diese Durchlässigkeit bei Männern größer, obwohl bekannt ist, dass das Risiko, an Demenz zu erkranken, bei Frauen höher ist.
Die Arbeit des GNPC und die Präsentation der ersten Daten markieren den Beginn einer neuen Ära in der Erforschung dieser Krankheitsarten. Obwohl die Teilnehmer bereits seit einem Jahr exklusiven Zugriff auf die Daten haben, stehen sie anschließend der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Analyse zur Verfügung. Die große Anzahl an Proben aus großen Kohorten weltweit erleichtert den Vergleich der Ergebnisse und stellt so ihre Reproduzierbarkeit und ihren Nutzen für Patienten sicher. „Dies ist eine erste Beschreibung dessen, was wir haben, aber das Interessanteste kommt noch“, fasst Suárez-Calvet zusammen. Frühe Biomarker für die Diagnose, neue Angriffspunkte für wirksamere Medikamente und ein auf die persönlichen Merkmale jedes Patienten zugeschnittenes Präzisionsmedizinmodell sind einige der vielversprechenden Ansätze für eine Gruppe von Krankheiten, deren Belastung immer größer wird.
Bill Gates, der mit seiner Stiftung die treibende Kraft hinter dem Konsortium ist, hat einen Kommentar verfasst, der die heute in den Fachzeitschriften von Nature veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel begleitet und den Geist des Projekts wie folgt zusammenfasst: „Wir sind dem Tag näher denn je, an dem die Diagnose Alzheimer kein Todesurteil mehr ist. Dies gilt jedoch nur, wenn wir die Forscher weiterhin unterstützen und ihre Zusammenarbeit erleichtern.“
EL PAÍS