Geheimnisse vor dem Tod: Warum es erleichternd sein kann, sie zu teilen

Geheimnis ist nicht gleich Geheimnis. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob man lediglich ein Geburtstagsgeschenk nicht im Voraus verraten oder ein schweres Trauma für sich behalten will. Manche Geheimnisse nimmt man mit ins Grab, andere beichtet man in den letzten Lebensstunden.
„Diese Lebensphase lässt Erlebtes, das Sterbende ihren Angehörigen bisher nicht anvertrauen wollten, häufig in einem anderen Licht erscheinen“, sagt Benno Bolze, Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes. „Mitunter wird auch klar, dass es nicht mehr viel Zeit und Möglichkeiten geben wird, letzte Dinge zu organisieren, Missverständnisse anzusprechen, jemandem zu danken oder auch belastende Geheimnisse mitzuteilen.“
Bolze, der seit vielen Jahren auch Erfahrung als ehrenamtlicher Sterbegleiter hat, sieht sich dabei als Vermittler. „Es ist nicht die Aufgabe von einem Hospizdienst, therapeutisch tätig zu werden. Aber wenn der Wunsch besteht, gehört es natürlich zur Aufgabe, bei offenen Fragen der Sterbenden Unterstützung anzubieten, sodass diese Themen mit den Angehörigen besprochen werden können.“

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Entlastende Gespräche könne es mit einem Angehörigen, einem Seelsorger oder Priester geben. „Auch ein Brief kann helfen, Klarheit zu schaffen – wenn beispielsweise aus Zeitgründen ein Gespräch nicht mehr möglich ist“, weiß Bolze. „So kann man auf diese Weise persönlich wichtige Themen mitteilen.“
Der Sozialpädagoge gibt zu bedenken, dass verschwiegene Dinge durchaus Einfluss auf den Sterbeprozess haben können. „Sie anzusprechen oder sogar zu klären, wenn das geht, wirkt häufig erleichternd und hilft den Sterbenden, loszulassen.“
Jeder Mensch versteckt in seinen Erinnerungen unerlaubte oder unfassbare Begebenheiten. Doch was sind das für Geheimnisse?
Um das herauszufinden, hat der US-Psychologe Michael Slepian 50.000 Menschen auf der ganzen Welt befragt. Demnach gaben 97 Prozent an, zurzeit mindestens ein Geheimnis zu hüten. Ganz oben auf der Hitliste landeten Lügen (69 Prozent), Beziehungsprobleme (61 Prozent) und Finanzen (58 Prozent). Im Mittelfeld rangierte das Betrügen bei der Arbeit oder in der Schule (36 Prozent).
Im Durchschnitt hatten die Teilnehmenden mindestens 13 Geheimnisse, von denen fünf so gut gehütet waren, dass sie niemand anderes kannte. Auf Platz eins der geheimsten Geheimnisse gehörten laut Slepian Gedanken, die sich um das Fremdgehen drehten. Platz zwei belegten sexuelle Verhaltensweisen, von denen niemand etwas wissen sollte. Dahinter fanden sich Diebstahl sowie Selbstverletzung, von denen niemand erfahren durfte.
Psychologe Slepian hat in seinen Studien vier Gründe gefunden, warum bestimmte Dinge geheim gehalten werden. Am häufigsten sei der Wunsch, die eigene Reputation zu schützen. Dahinter verbirgt sich die Angst, nach der Offenlegung schlecht dazustehen und kritisiert zu werden. Zudem wolle man Konflikte vermeiden und die Beziehung nicht gefährden. Auch das Streben nach Zugehörigkeit und Akzeptanz spiele eine große Rolle.
Jeder Mensch hat also seine Geheimnisse. Auch der Kopf von Sterbebegleiter Bolzes ist voll davon – nicht nur von seinen eigenen. Der Experte hat so manchem Menschen in seiner letzten Stunde die Hand gehalten und eine Geschichte erfahren, die sonst keiner weiß. Die bleibt selbstverständlich unter Verschluss, „schließlich habe ich eine Schweigepflicht“.

Menschen der Generation 50plus gleiten eher in Verschwörungsdenken und Filterblasen ab als jüngere Menschen. Woran liegt das – und welche Wege führen da raus?
Warum man das Verborgene nicht schon eher ans Licht geholt hat? „Häufig hat man es aufgeschoben – auf später, da dafür noch Zeit war. Vielleicht war es zu schwer, darüber zu reden oder man war der Meinung, es ist für den anderen eine zu große Belastung. Das muss es aber nicht sein“, sagt Bolze. Er rät: Man sollte ein Gespräch nicht bis zur letzten Minute aufschieben. „Sonst bleibt keine Zeit mehr, noch einmal darüber zu sprechen und gegebenenfalls falsch Verstandenes noch zu korrigieren.“
Ob man ein Geheimnis mit ins Grab nehmen oder lieber zu Lebzeiten lüften sollte, hängt einerseits vom Problem selbst ab. Andererseits von der Beziehung, die zu der bisher unwissenden anderen Person besteht. „Häufig handelt es sich um ein Familienmitglied“, sagt Harald Schickedanz, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation sowie Ärztlicher Direktor der Klinik Hüttenbühl im Schwarzwald. „Gibt es einen guten Draht, dann macht es Sinn, über Belastendes zu sprechen.“ Allerdings bestehe immer das Risiko, dass es bei der oder dem anderen zu einer sekundären Traumatisierung kommt – zu einer psychischen Belastung durch das Erlebte, das man erfährt.
Ob Kriegserlebnisse oder sexueller Missbrauch, körperliche Züchtigung oder Suchtvergangenheit: „Ein Trauma ist wie ein toxisches Material, wie ein radioaktives Element oder ein Virus – ohne Schutzbekleidung bringt man sich in höchste Gefahr“, sagt Schickedanz. Dafür sollte zuerst geklärt werden, ob der oder die andere das Geheimnis überhaupt wissen will. Anschließend müsse es eine therapeutische Aufarbeitung geben.
„Andererseits gibt es gute Gründe, das Trauma aus der Tabuzone zu holen“, erklärt der Trauma-Experte. „Denn traumatisierte Menschen können ihre Probleme an ihre Nachkommen weitergeben – obwohl oder gerade weil sie über Erlebtes schweigen.“ Symptome: häufig erhöhte Stressanfälligkeit, Angststörung bis hin zur Depression. „Um diese Probleme erfolgreich behandeln zu können, muss man die Hintergründe wissen.“
Schickedanz nennt ein Beispiel: Eine ärztliche Kollegin litt jahrelang unter dem Albtraum, in dem sie und andere umgebracht werden. Kurz vor dem Tod erzählte ihr Vater, dass er im Krieg als Widerstandskämpfer erschossen werden sollte. Kurz vor der Hinrichtung tauschte er mit einem Kameraden den Platz an der Mauer. Der Schuss, der den anderen traf, war tödlich. Der Vater überlebte, machte sich aber Vorwürfe. Erst nachdem die Kollegin dieses Erlebnis gehört und professionell verarbeitet hatte, verschwanden die Albträume.
„Auch das Thema sexuelle Gewalt in der Kindheit sollte nicht totgeschwiegen werden“, rät Schickedanz dringend. „Oft sind diese Erlebnisse so prägend, dass sie sich in der nächsten Generation als Muster wiederfinden. Man sucht sich zum Beispiel unbewusst einen Partner, der gewalttätig ist.“ Das Wissen darum könne den nächsten Generationen helfen, das Prinzip zu durchschauen.
Und wenn man niemanden findet, bei dem man seine Last abladen kann? „Es gibt bei uns immer die Möglichkeit, bedrückende Geheimnisse anonym zu offenbaren“, sagt Elke Schilling, Initiatorin von Silbernetz, einem gemeinnützigen Verein, der deutschlandweit Seniorinnen und Senioren ab 60 Jahren hilft, die sich einsam fühlen. „Das kommt zwar nicht täglich, aber ab und zu vor.“
Schilling erinnert sich an ein Gespräch kurz nachdem der Ukraine-Krieg ausgebrochen war. „Ein Mann hat mir weinend am Telefon erzählt, dass er als 18-jähriger Soldat in Russland an der Ostfront Furchtbares getan hatte. Er hatte davon bisher noch niemandem erzählt, doch jetzt sei ihm das Geschehene wieder bewusst geworden und er wollte darüber mit jemandem reden.“
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rnd