80 Jahre Zahlen: Alles Fakten, oder?

Zahlen gelten als die härteste Währung im Journalismus. Wer über Wirtschaft schreibt, über Unternehmen oder die Volkswirtschaft, orientiert sich an ihnen: schwarze Zahlen, rote Zahlen, Gewinn, Verlust, Wachstum, Schrumpfung, Stagnation. Manchmal gibt es auch Zahlendreher, oder jemand verwechselt Millionen mit Milliarden, aber abgesehen davon handelt es sich ja um harte Fakten, oder?
Das ist leider nicht die ganze Wahrheit: Es fängt schon damit an, dass Unternehmen viel Spielraum haben in der Bilanzierung. Sie haben Wahlrechte bei der Bewertung von Vermögen oder Verlusten und können ihre Ergebnisse zumindest kurzfristig glätten. Und wie der Fall des Aschheimer Zahlungsdienstleisters Wirecard – wie viele Bilanzskandale zuvor – gezeigt hat, lassen sich Zahlen auch komplett erfinden. Selbst so, dass es der eigene Wirtschaftsprüfer und die Aktienanalysten nicht merken, deren Job es eigentlich ist, jede Zahl einmal umzudrehen.
Aber auch volkswirtschaftliche Daten sind nicht sakrosankt: Griechenland manipulierte Anfang der 2000er-Jahre seine Schuldendaten, in den USA feuerte Donald Trump jüngst die Chefin der Arbeitsmarktstatistik, weil ihm ihre Zahlen missfielen. Für Journalistinnen und Journalisten bedeutet das: Zahlen sind wichtig, aber nicht alles. Wir müssen uns fragen, warum Behörden keine Auskunft geben, warum Vorstände Interviews meiden oder warum ein gestandener Manager im Gespräch mit Journalisten auf einmal nervös wirkt. Auf das Bauchgefühl zu hören, den inneren Lügendetektor bei der Recherche einzuschalten – das ist ebenso entscheidend wie der Blick in die Tabellen, Pressemitteilungen und Geschäftsberichte. Allein auf Zahlen zu vertrauen, das wäre nur die halbe Arbeit.
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