80 Jahre SZ: Ohne Demokratie kein Wachstum – und umgekehrt

Die Lage war dramatisch: Im Oktober 1945, wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs, liegt die deutsche Wirtschaft am Boden. Ein großer Teil der Gebäude und Industrieanlagen in Deutschland sind zerstört, es mangelt an nahezu allem. Die Geschäfte sind leer, viele Menschen haben keine Wohnung und nicht selten leiden sie Hunger. Von einem „Bergrutsch“ schreibt die Süddeutsche Zeitung damals in einer ihren ersten Ausgaben. Und weiter: „Das Bild, das die deutsche Wirtschaft wenige Monate nach dem durch den Nationalsozialismus verschuldeten größten aller wirtschaftlichen Zusammenbrüche der Weltgeschichte bietet, kann nur trüb sein.“ Es bedürfe nun „des guten Willens und der harten Arbeit jedes einzelnen von uns, um dem deutschen Volk nach Gutmachung der Kriegsschäden wieder einen angemessenen Lebensstandard zu sichern“.
Harte Arbeit, guter Wille – diese Schlagworte gibt es auch heute noch. 80 Jahre später ist aber auch klar, dass der Lebensstandard in Deutschland wieder mehr als „angemessen“ ist: Im weltweiten Vergleich liegt er auf Spitzenniveau. Die Einkommen sind hoch, die Arbeitslosigkeit vergleichsweise niedrig, die Infrastruktur trotz aller berechtigen Klagen weitgehend gut. Und bei allen Problemen gehört die deutsche Volkswirtschaft zusammen mit China und den USA noch immer zu den größten und exportstärksten der Welt.
Wie konnte das gelingen, nach aller Zerstörung? Wird das so bleiben? Und was hat das alles mit der Demokratie zu tun?
„Die deutsche Wirtschaft wächst seit Jahrzehnten, und die meisten Menschen haben bisher nichts anderes erlebt“, stellt Davide Cantoni, 44, fest. Der deutsch-italienische Ökonom und Wirtschaftshistoriker, der lange Dekan der volkswirtschaftlichen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität in München war, sagt: „80 Jahre mit bis auf wenige kleinere Ausnahmen deutlichem Wirtschaftswachstum, das ist welthistorisch einmalig.“
Historiker denken in lange Zeiträumen. Deshalb weiß Cantoni, dass es in den vielen Jahrhunderten zuvor ein stetiges Auf und Ab der Wirtschaft gab. Eigentlich, meint er, sei es der Menschheit wirtschaftlich immer konstant schlecht gegangen. Seit 1945 aber gibt es in Deutschland und in großen Teilen Europas plötzlich einen Pfad, der bergauf führt. Die Folge: ein stetig steigender Lebensstandard.
Eine freie Presse ist wichtig für die DemokratieSeit 1945 ist die deutsche Wirtschaft deutlich gewachsen, wie die Statistik belegt. Die soziale Marktwirtschaft, einst von Ludwig Erhard ersonnen, ist auch international zu einem Erfolgsmodell geworden. Direkt nach dem Krieg, nach der Währungsreform im Jahr 1948 und der Teilung des Landes wurde erst mal aufgeräumt und aufgebaut, auch mit tatkräftiger Unterstützung der Amerikaner. In den Wirtschaftswunder-Jahren dann legte das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt deutlich zu, in den 1950ern um durchschnittlich mehr als acht Prozent pro Jahr, in den 60ern immerhin noch immer um jährlich vier Prozent. Die Wirtschaft florierte. Erst 1973 endete mit dem großen Ölpreisschock der Nachkriegsboom.
Der Grund für den anhaltenden Aufschwung ist für Cantoni klar: „Es gibt einen engen positiven Zusammenhang zwischen Demokratie und Wirtschaftswachstum.“ Die Demokratie sorge dafür, dass Informationen auch in der Wirtschaft effizient und richtig verteilt werden, die Marktwirtschaft also funktionieren könne. „Nur dann gibt es auch Anreize, das Beste umzusetzen“, sagt Cantoni. So könnten ökonomischen Anreizsysteme ihre Wirkung entfalten und würden Ressourcen effizient verteilt. Das wiederum sei die Voraussetzung dafür, dass es Wachstum über einen Zeitraum von Jahrzehnten geben könne. Unverzichtbar für eine funktionierende Demokratie – und damit für das anhaltende Wirtschaftswachstum – seien dabei auch „freie Meinungsäußerung und eine freie Presse“, betont Cantoni.
Denn auch in den Jahrzehnten nach dem ersten Rücksetzer ging es weiter bergauf: nicht mehr so stürmisch, dafür auf hohem Niveau. Die westdeutsche Wirtschaft hatte sich etabliert und ihren Platz unter den weltweit führenden Nationen gefunden. 1990 kam dann die Wiedervereinigung und sorgte für einen neuen Schub.
Einen weiteren massiven Rückgang des Wachstums gab es dann erst in der Finanzkrise 2009. Und 2016 wurde Donald Trump zum ersten Mal zum US-Präsidenten gewählt, 2020 erschütterte die weltweite Corona-Pandemie die Weltwirtschaft, 2022 schließlich überfiel Russland die Ukraine und brachte den Krieg zurück nach Europa.
Deutschland steht noch auf „wackeligen Beinen“Seit 2023 schrumpft nun die Wirtschaft in Deutschland, für 2025 wird eine Stagnation oder bestenfalls ein kleines Plus vorausgesagt. Gerade erst haben die großen Wirtschaftsforschungsinstitute aber für 2026 ein Plus von 1,3 Prozent in Aussicht gestellt. Es wäre das erste richtige Wachstum seit Jahren, vor allem, weil der Staat inzwischen massiv in Infrastruktur und Rüstung investieren will.
„Die deutsche Wirtschaft steht nach wie vor auf wackeligen Beinen“, sagte zuletzt Geraldine Dany-Knedlik vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Angesichts anhaltender struktureller Schwächen sei die Dynamik möglicherweise nicht von Dauer. Dafür braucht es nach Ansicht vieler Experten in Deutschland mehr: vor allem den Abbau der oft lähmenden Bürokratie – und Reformen, auch der Sozialsysteme. Kanzler Friedrich Merz (CDU) hat bereits einen Herbst der Reformen angekündigt. Aber so rasant wie in den 50er- und 60er-Jahren wird es nicht mehr aufwärtsgehen.
„Dass sich das Wachstum in den vergangenen Jahrzehnten abgeschwächt hat, ist nicht besorgniserregend“, sagt Ökonom Cantoni. Es sei einfach „normal“, dass Deutschland nicht mehr mit vier Prozent, sondern nur noch mit 0,5 bis einem Prozent wachse. Die Bevölkerung werde älter, das Land entwickele sich von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Schon deshalb machten Produktivität und Wirtschaftsleistung nicht mehr solche Sprünge. Hinzu kommen große Veränderungen: Die Weltwirtschaft ist in Unruhe, Donald Trumps Zölle zerstören den freien Welthandel, die EU, China und die USA bekämpfen sich und sind keine Handelspartner mehr.

Ist die Phase des anhaltenden Wachstums also vorbei? „Ich bin grundsätzlich optimistisch“, sagt Cantoni. Das größte Problem seien aber die politischen Risiken. Stabile politische Rahmenbedingungen und die Demokratie seien zunehmend in Gefahr. „Es ist auch aus ökonomischer Sicht bedrückend, dass autoritäre Systeme auf dem Vormarsch sind. Es besorgt, dass liberale Demokratien derzeit keine ausreichende Antwort auf populistische Tendenzen haben“, sagt er. In Deutschland hat die in Teilen rechtsextremistische AfD Zulauf, auch in Ländern wie Frankreich oder Großbritannien gewinnen die Extremen. Nicht nur US-Präsident Donald Trump und seine Leute versuchen derzeit, die Demokratie auszuhebeln und lenkend in die Wirtschaft einzugreifen.
Autokratie ist aber Gift für eine langfristig florierende Wirtschaft. „Autoritäre System bringen Verzerrungen in die Märkte“, sagt Cantoni und nennt als Begründung: „Wenn es keinen funktionierenden Austausch von Informationen gibt, gibt es auch keine guten Entscheidungen und Ideen, wirtschaftliche Anreiz-Mechanismen werden ausgehebelt.“ Zudem gebe es in autokratischen Systemen die Tendenz zu Interventionen, was zu weiteren Verzerrungen führt. Repressionen und Zensur vertragen sich nicht mit einer freien Wirtschaft.
Autokraten wissen oft nicht, was wirklich im Land passiert – und machen deshalb FehlerDas Problem: Kurzfristig können Interventionen und Autokratien sogar erfolgreich sein und Wachstum erzeugen. China etwa hat seine Wirtschaft so in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfolgreich gemacht, auch die Türkei erlebte einen Aufschwung. Doch zuletzt gab es immer wieder Probleme wie Korruption, Immobilienkrisen und Inflation. Autokratische Machthaber wissen zudem oft nicht, was wirklich im Land passiert – alle sagen der Führung ja nur das, was diese hören will. In der Demokratie ist dagegen eine freie Diskussion über die richtige politische Lösung möglich, das hilft langfristig auch der Wirtschaft.

Dazu kommt: Auch fast alle Medienunternehmen, die in einer Demokratie eine wichtige Rolle einnehmen sollen, stehen unter massivem wirtschaftlichem Druck. Die Märkte haben sich rasant verändert, Dienste wie Facebook, Instagram, Tiktok, Google oder Amazon haben rasant in Medienmärkte expandiert und dort mächtige Stellungen etabliert. Das macht den klassischen Medien das Geschäft schwer. „Mindestens die Hälfte des deutschen Werbemarktes wird heute abgeräumt von drei US-amerikanischen Konzernen: Google, Meta und Amazon“, sagte zuletzt Burda-Manager Philipp Welte, der auch Chef des Medienverbands der freien Presse ist und damit viele deutsche Zeitschriftenverlage vertritt. Das Problem: Viele Medienunternehmen in westlichen Demokratien haben sich vorwiegend durch Werbeeinnahmen finanziert. Sie müssen sich nun eine neue wirtschaftliche Basis suchen und gleichzeitig die Transformation ins Digitale schaffen, das gilt auch für die Süddeutsche Zeitung.
Wirtschaft, Demokratie und Medien brauchen einander also mehr denn je – auch um sich gegen die modernen Autokratien zu wehren. Denn Deutschland und Europa brauchen wirtschaftliches Wachstum, um die schwelenden Verteilungskonflikte in den Griff zu bekommen, um ihre Sozialsysteme und staatlichen Ausgaben zu finanzieren. „Wirtschaftliche Unzufriedenheit führt zu politischer Unzufriedenheit“, stellte kürzlich die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Nicola Fuchs-Schündeln, fest und fügte an: „Mehr Wirtschaftswachstum kann die Demokratie retten.“
Es kommt also auf das Zusammenspiel an. Wie wichtig das ist, haben die vergangenen 80 Jahre gezeigt.
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