Thomas Tuchel überrascht die Skeptiker – beim 5:0 gegen Serbien macht der englische Nationaltrainer alles richtig


Die gedämpfte Stimmung im Stadion dürfte dem Trainer der englischen Nationalmannschaft Thomas Tuchel bekannt vorgekommen sein. In der Schlussphase des WM-Qualifikationsspiels der englischen Fussballer gegen Serbien am Dienstagabend machten sich viele Fans bereits auf den Heimweg. Bei Abpfiff war das Stadion fast leer.
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Ähnlich hatte es bereits bei den vergangenen Spielen der «Three Lions» unter Tuchel ausgesehen, als viele Zuschauer wegen der inspirationslosen Spielweise enttäuscht waren. Doch am Dienstagabend waren es nicht die englischen Anhänger, die sich von ihrem Team abwandten, sondern die Serben.
Denn die Engländer fertigten den vermeintlich stärksten Konkurrenten auf dem Weg zur WM 2026 in Nordamerika auswärts in Belgrad gleich 5:0 ab. Damit führt Tuchels Team die Qualifikationsgruppe K mit dem Maximum von 15 Punkten vor Albanien an, derweil die Serben mit einem Spiel weniger dahinter liegen. Der Vorsprung von sieben Punkten erscheint so komfortabel, dass die Boulevardzeitung «Sun» die Engländer dazu aufrief, die Flüge zur WM im kommenden Sommer bereits zu buchen.
Tuchel kontert die aufkommenden NegativstimmenDie Erleichterung über den ersten bestandenen Härtetest war Tuchel deutlich anzumerken. Er umarmte freudig seine Assistenten und Spieler und lobte später die Darbietung seiner Mannschaft als «Teamleistung in reinster Form». Diese verdeutlichten auch die fünf verschiedenen Torschützen: Es trafen Harry Kane und Marcus Rashford (mittels Elfmeter) sowie jeweils erstmals in einem Länderspiel Noni Madueke, Ezri Konsa und Marc Guéhi.
Erleichtert wurden Englands Anstrengungen durch eine rote Karte für Serbiens Nikola Milenković (72./Notbremse). Durch den klaren Sieg konterte Tuchel die aufkommenden Negativstimmen gegen ihn – und belehrte die Skeptiker eines Besseren. Die englische Fussballöffentlichkeit hatte in der letzten Zeit zunehmend die unattraktiven Darbietungen seines Teams beanstandet.
Nach dem Rücktritt von Gareth Southgate nach der EM 2024, der das Nationalteam zwar erfolgreich, aber laut der Meinung der Landsleute zu vorsichtig agieren liess, erwartete das Mutterland des Fussballs unter Tuchel einen spielerischen Aufschwung. Der Deutsche sollte den packenden Stil aus der Premier League auf das Nationalteam übertragen und die Qualitäten der einzelnen Spieler stärker zur Geltung bringen. Allerdings setzten sich nach Tuchels Einstand als Englands Nationalcoach zunächst die altbekannten Probleme fort.
Exemplarisch dafür standen die zwei jüngsten Qualifikationsspiele gegen Andorra, in denen sich die Engländer zu zwei knappen Siegen mühten, einem 1:0 und einem 2:0. «Langweiliges, langweiliges England», stand spottend in der «Daily Mail», in der «Sun» war von «sleepy lions» die Rede, von schlafenden Löwen.
Die Kritik fiel besonders hart aus, weil Tuchel seit seinem Champions-League-Sieg mit dem FC Chelsea 2021 auf der Insel als jemand gilt, der schnell funktionierende Ideen entwickeln kann. Der «Guardian» hatte Tuchels Länderspieldebüt seinerzeit fast ehrfürchtig kommentiert: Der Deutsche sehe aus wie ein Herzog – schlanke Gestalt, kantig, gross, mit besonderer Ausstrahlung.
Fortan kämpfte Tuchel gegen diese hohen Erwartungen an, wohl wissend, dass er die Spieler erst einmal kennenlernen musste, um eingefahrene Routinen aufzubrechen. Immer wieder betonte er, dass die Führung einer Nationalmannschaft grundlegend anders sei als die eines Klub-Teams.
Bei den ersten zwei Zusammenkünften im Frühjahr und Sommer habe er sich «viel aneignen» müssen, sagte er. Diese Erkenntnis war wenig überraschend, hatten zahlreiche andere prominente Trainer doch bereits Ähnliches geäussert. Doch Tuchel wollte damit verdeutlichen, dass auch ihm diese Lernprozesse zustehen. Und offenbar haben sich diese Bemühungen nun ausgezahlt.
Die Grundlage für den Erfolg gegen Serbien lieferte der Trainer selbst – mit einer durchdachten Aufstellung. Trotz mehreren verletzungsbedingten Ausfällen, etwa jenen von Jude Bellingham, Bukayo Saka, Phil Foden und John Stones, wagte der 52-Jährige, insgesamt sieben Spieler für die Startformation zu nominieren, die vor dieser Partie weniger als 25 Länderspiele absolviert hatten.
Die Wahl der Startformation zeigte, dass Tuchel in den vergangenen Monaten ein gutes Gespür für seine Spieler entwickelt hatte. Stellvertretend dafür stand das Tor von Madueke, das dieser mit Elliot Anderson und Morgan Rogers brillant herauskombinierte.
Seit Scholes suchen die Engländer nach einem SpielgestalterVor allem die Integration von Anderson, der für Nottingham Forest kickt, glich einem Kunstgriff Tuchels. Seit dem Rücktritt von Paul Scholes aus der Nationalmannschaft vor zwei Jahrzehnten suchen die Engländer nach einem Spielgestalter, der Rhythmus und Struktur vorgibt. Auch Tuchel hatte lange getüftelt, bis er vor den jüngsten Länderspielen den 22-jährigen Anderson als Neuling präsentierte. Dieser war gegen Serbien immerzu anspielbar, diktierte die Spielzüge und beschleunigte mit seinen Pässen das kontrollierte Aufbauspiel seines Teams.
Dadurch wirkte Englands Auftritt dynamisch, ideenreich, intensiv – und vor allem unterhaltsam. Der frühere englische Nationalgoalie Paul Robinson schwärmte davon, dass Tuchels Forderungen an seine Mannschaft «bis ins kleinste Detail umgesetzt» worden seien. Dieser Einschätzung schlossen sich auch andere Medien an. Der «Telegraph» schrieb, die Fans könnten «zu träumen beginnen» – natürlich vom WM-Titel.
Die Engländer versöhnten sich schnell mit Tuchel, der sein Wirken als englischer Nationaltrainer als eine Herzensangelegenheit betrachtet. Er lässt keine Gelegenheit aus, seine Begeisterung für die Tätigkeit zum Ausdruck zu bringen. «Tuchel’s coming home» – so fühlt sich seine bisherige Zeit mit den Three Lions an, in Anlehnung an die englische Hymne «Football’s coming home». Nach dem Spiel gegen Serbien lief er zu den mitgereisten englischen Fans und applaudierte ihnen. Diesmal waren alle noch da.
nzz.ch