Pessimismus macht sich breit: Durch Deutschland muss ein Ruck gehen - dafür braucht Merz Mut zur Emotion

Da Steinmeier für den Ruck erkennbar ausfalle, müsse wohl Bundeskanzler Friedrich Merz ans Mikrofon, meint unser Kolumnist.
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Das Land ist verzagt geworden und gemütlich, das zeigt eine neue Allensbach-Untersuchung. Wir Deutschen wollen keine Opfer mehr bringen. Kanzler Merz könnte das ändern - mit nur einer Rede.
Vor 28 Jahren waren die Deutschen noch besser drauf und glaubten an die Zukunft. Heute sind sie arbeitsscheu, risikoavers und wollen es gemütlich - darauf jedenfalls deutet eine interessante Untersuchung hin.
"Deutsche sind kaum bereit für schmerzhafte Reformen", titelt die F.A.Z. und beruft sich auf eine Umfrage. Demnach würden unsere Landsleute heute noch vielen Aussagen der berühmten "Ruck-Rede" von Roman Herzog zustimmen. Darin hatte der Bundespräsident Reformbedarf ausgemacht, Bürokratie beklagt und die Deutschen zu Anstrengungen ermuntert.
Die Rede war ein Knaller: Das Bundespräsidialamt erhielt damals viertausend Briefe, der Text wurde fünfzigtausendmal angefordert. Das Institut für Demoskopie Allensbach hatte damals die Aussagen aus Herzogs Rede in einer Umfrage getestet und weitreichende Zustimmung ausgemacht. Nun hat das Institut dasselbe gemacht, ohne die Herkunft der Aussagen zu kennzeichnen.
Fehlt uns der Charakter?Wie würden Deutsche heute auf die Ruck-Rede reagieren? Kurz gesagt: Sie wünschen sich einen Ruck - aber womöglich fehlt ihnen dafür inzwischen der Charakter.
So geben immer mehr Deutsche an, sie begriffen das Leben nicht als Aufgabe, wollten also nicht so sehr etwas leisten als viel mehr das "Leben genießen". Sie bewerten ein sicheres Leben im Wohlstand als wichtiger als ein Leben mit großen Chancen und Risiken.
Die Deutschen sind auch pessimistischer geworden: Wenn es in der Ruck-Rede heißt, die besten Jahre lägen noch vor uns, fanden das damals 40 Prozent falsch, heute sind es 58 Prozent.
Zu viele gemütliche JahreDas heißt nicht, dass eine Ruck-Rede heute nicht funktionieren kann. Es heißt, dass wir sehr lange keine Ruck-Reden mehr gehört haben. Es gab zu viel gemütliche Jahre.
Nach Herzog hat niemand mehr eine vergleichbare Rede gehalten. Die Bundespräsidenten haben das von Herzog begründete Format der "Berliner Reden" sogar zu Talk-Runden heruntermoderiert. Sie verfallen damit dem Irrtum, dass die Bürger vor allem mitreden wollen.
Das ist falsch: Populisten sind auch deshalb rund um den Globus so erfolgreich, weil sie über Führungspersonal verfügen. Die Menschen wollen nicht selbst ans Ruder - sie wollen, das jemand für sie auf die Brücke geht, der den Kurs zu kennen vorgibt.
Moderation und StimmlosigkeitIn Deutschland dagegen moderierte uns Angela Merkel durch viele Jahre, danach regierte ein gänzlich stimmloser Olaf Scholz. Bundespräsident war überwiegend ein Mann namens Frank-Walter Steinmeier, der mit pastoraler Tonlage die Nation beruhigte.
Ich schrieb an dieser Stelle schon einmal: Vom argentinischen Präsidenten Javier Milei kann man lernen, wie man kommuniziert. Er hat es geschafft, dem Land eine Rosskur zu verpassen, die dem Volk viel zugemutet hat. Er wurde verspottet - jetzt bekommt er von Ökonomen Bestnoten.
Da Steinmeier für den Ruck erkennbar ausfällt, müsste wohl Bundeskanzler Friedrich Merz ans Mikrofon. Wie könnte das aussehen?
Logos, Ethos, PathosDie Rhetorik verlangt traditionell drei Elemente: Logos, den logischen Inhalt, Ethos, charakterliche Glaubwürdigkeit, und Pathos, einen emotionalen Appell.
Logos ist selbst bei deutschen Reden selten ein Problem. Der Reformbedarf liegt auf der Hand, die geopolitischen Zwänge sehen wir täglich in den Nachrichten, der demografische Wandel fordert Sozialsysteme heraus und trocknet den Arbeitsmarkt aus. Haken dran.
Ethos: Merz gilt als glaubwürdiger Wirtschaftsmensch, jedenfalls im Vergleich zu anderen Kanzlern und Kanzlerkandidaten. Allerdings wird ihm die Wirtschaftsnähe vor allem von Linken derzeit als Makel ausgelegt. Er sollte sich in diese Rolle hineinlehnen: Blackrock und Wirtschaftsanwalt? Na und?
Pathos: Hieran fehlt es oft in Reden der deutschen Politik. Zu groß ist die Scheu als "zu amerikanisch" herüberzukommen oder, noch schlimmer, als demagogisch oder populistisch. Für Merz gibt es einen eleganten Weg, den der Sauerländer aber bislang meist scheut: Seine drei Kinder und sieben Enkel.
Aus der Kommunikation hält er sie bislang überwiegend heraus - aber sie sind ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Die Sorge um Kinder eint über politische Grenzen hinweg. Womöglich ist den Gemütlichkeitsdeutschen nicht bewusst, dass den Preis für ihre Gemütlichkeit die eigenen Nachkommen zahlen.
Der richtige Zeitpunkt für den "Ruck"Hier kommt ein viertes Element der Rhetorik ins Spiel, Kairos: Es meint die Kunst, den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Kontext und die Gefühlslage im Zielpublikum aufzugreifen. Den gilt es akribisch herauszuarbeiten.
Vielen Punkten der Ruck-Rede stimmen die Deutschen immerhin auch heute zu. Der Frust über bröckelnde Brücken, lahme Digitalisierung und maue Konjunktur ist mit Händen greifbar, die Sorge um unser Gesundheitssystem steigt. Es ist derselbe Torf, auf dem der Populismus gedeiht.
Merz könnte seine Version einer "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede halten. Es reicht aber nicht, mit dürren Lippen nebenbei anzumerken, wir müssten "alle" mehr arbeiten - das sorgt nur für Empörung und versickert.
Zeit und Raum nehmenMerz muss sich Zeit und Raum nehmen, wenn er von seinen Leuten Opfer verlangt. Er müsste seine Sorge um ein Deutschland in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren bildhaft beschreiben, ausführlich. Er könnte dann seine Vision der Zuversicht entwerfen, wie das Land das Ruder herumreißen könnte: mit fundamentalen Reformen. Einer Agenda 2030, wenn es denn sein muss.
Klar, es wäre ein Wagnis. Es ist traditionell ein Bundespräsidentenjob. Derzeit ist die politische Bereitschaft für harte Entscheidungen in der zittrigen Koalition gering. Die Politik folgt dem Phlegma, das zeigen Absurditäten wie die Mütterrente.
Aber Aussitzen führt nicht zu Besserung. "Warum bekommen wir den Ruck noch immer nicht hin? Weil wir alle noch immer darauf warten, dass er passiert!" Das sagte Bundespräsident Horst Köhler einmal. Heute warten wir aber nicht nur auf den Ruck - wir warten sogar auf die Ruck-Rede.
Auch das wird aber niemand anderes für uns erledigen.
Quelle: ntv.de
n-tv.de