Kommentar: Die Ungewissheit nach der Wahlschlappe von Friedrich Merz war ein Armutszeugnis

Es ist nicht ehrenrührig für einen Regierungschef, im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit zu bekommen. Es ist aber mindestens grob fahrlässig, sogar desaströs, nicht zu wissen, wie es nach dem ersten Scheitern weitergeht. Dass Mehrheitsfraktion und die Bundestagsverwaltung stundenlang im Nebel stocherten, ist ein Armutszeugnis und kommt einem Staatsversagen gefährlich nahe.
Eine solche Unsicherheit ist zersetzend, weil die obersten Organe des Staates nicht wussten, wie sie verfahren sollen. Plötzlich standen sie wie die Ochsen vor dem neuen Tor der Geschäftsordnung des Bundestages, die eine Frist für die Beratung der Wahlvorschläge vorsieht. Welche Wahlvorschläge eigentlich? Es war doch klar, dass nur Friedrich Merz in einen zweiten Wahlgang würde gehen können. Plötzlich stand vieles zur Debatte – ein zweiter Wahlgang am Freitag, am Donnerstag oder noch am Mittwoch.
Der Schaden schien auf einmal riesengroß. Merz will am Mittwoch nach Warschau reisen, am Donnerstag hat er zig Termine zum 80. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung des Nationalsozialismus. Sollte das jetzt die lahmste Ente der Republik übernehmen, der Bis-zum-bitteren-Schluss-geschäftsführende-Kanzler Olaf Scholz? Das wäre wirklich ehrenrührig.
Friedrich Merz musste wissen, dass ihm im ersten Durchgang nicht alle Koalitionäre auf Kommando folgen würden. Wie konnte er dann glauben, dass er trotzdem im ersten Durchgang glatt gewählt werden würde? Wie konnte er alles darauf setzen? Weil es immer schon so war?
Wie konnte Merz glauben, dass ihm alle auf Kommando folgen?Merz wird aber in einer Zeit Kanzler, in der eben nichts ist, wie es immer schon war. Es ist eine Zeit der Unsicherheit, die er durch sein eigenes Verhalten noch verstärkt.
Er hätte nur einmal in die Bundesländer schauen müssen. Da ist schon mehrfach ein Kandidat im ersten Wahlgang gescheitert und danach dennoch Ministerpräsident geworden. Geklappt hat es am Ende eigentlich fast immer – und wenn es drei Wahlgänge brauchte, wie bei Kai Wegner 2023 in Berlin. Natürlich hatte der spätestens im dritten Wahlgang weiche Knie, aber er hat es durchgezogen – und gewonnen.
So funktioniert die Welt nicht. Oder besser: So funktioniert sie mit Friedrich Merz nicht. Schließlich hat er in den vergangenen Monaten durch sein Anbändeln mit der AfD und seiner Zustimmung zum 500-Milliarden-Schuldenpaket bei SPD wie bei CDU für viel nachhaltigen Ärger und Misstrauen gesorgt. Hinzu kommen seine – und Lars Klingbeils – Ministerentscheidungen, die zwangsläufig enttäuschte Verlierer zurückließen, die sich rächen können wollten.
So könnte es ausgerechnet sein Unions-Intimfeind Wegner sein, von dem Merz hätte lernen können. Zum Beispiel so etwas wie Demut, oder mindestens Mut. Denn die Ungewissheit über das Prozedere nach Merz’ Scheitern im ersten Wahlgang ist ein Ausweis für Hochmut – und die kommt bekanntlich vor dem Fall. Nach dem Motto: Ihr MÜSST mich, Friedrich Merz, ja doch wählen. Ihr habt keine Alternative. Also werdet ihr das tun.
Merz hat sich viele zu Gegnern gemacht – einige haben sich gerächtDie Wahl des Regierungschefs ist der große Moment des Parlaments, der Moment der enttäuschten Rächer. Für viele Abgeordnete ist diese Wahl sogar die einzige Chance, während einer Legislaturperiode, ihrem eigenen Gewissen – oder auch anderen Erwägungen – zu folgen. Nie wieder danach, zu keinem Sachthema, wird die Öffentlichkeit so gebannt auf eine Abstimmung starren. Nie wieder haben sie so viel Macht.
Es war der perfekte Moment, dem Kandidaten und seinen Leuten vor den Bug zu schießen, ihnen einen Denkzettel zu verpassen, ein Zeichen zu setzen. Sich abzureagieren. Das heißt nicht, dass man damit alles aufs Spiel setzt. In einem späteren Wahlgang könnte man dann immer noch Ja sagen zum ungeliebten Kandidaten. So werden die Putschisten, die gar keine sein wollten, gedacht haben.
Und so ist es später auch geschehen. Aber zunächst der riesengroße Schreck, als sie feststellten, dass in der Geschäftsordnung des Bundestages von Fristen die Rede ist. Was habe ich da angestellt, mag sich der eine oder die andere gedacht haben. Geradezu greifbar wurde das schlechte Gewissen anhand der Zahlen im zweiten Wahlgang: Da erhielt Merz fast alle – 325 von 328 – Koalitionsstimmen.
Berliner-zeitung