Plattenbau: Neuer Blick auf alte Siedlungen

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in vielen Teilen der Welt Wohnhochhäuser aus vorgefertigten Betonplatten gebaut. Besonders beliebt waren sie in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR), wo sie als "Plattenbauten" bekannt wurden. Sie prägen noch immer das Bild vieler Städte in Ostdeutschland, und einige von ihnen stehen inzwischen unter Denkmalschutz.
Viele Menschen finden die Bauten heutzutage schlichtweg hässlich. Das Kunsthaus Potsdamaber schaut aus einem ganz anderen Winkel auf die Gebäude. Die Ausstellung "Wohnkomplex. Kunst und Leben im Plattenbau" untersucht das kulturelle Erbe dieser Fertigbauten als "Herzstück der DDR-Sozialpolitik", als "Ort der Vergesellschaftung" und "Symbol für den realsozialistischen Fortschritt", wie es auf der Webseite heißt. Im Zentrum steht nicht das architektonische Erbe, sondern der Plattenbau als "kultureller Resonanzraum, der Fragen nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Erinnerung aufwirft".

Ausstellungskurator Kito Nedo, geboren in den 1970er-Jahren in Leipzig - in der Blütezeit der Plattenbaus - sagt, er selbst habe erst spät erkannt, wie diese Wohnsiedlungen als "Sozialisationsumgebung" ihn und sein Leben geprägt hätten. Und damit sei er nicht allein, schließlich hätten sehr viele Menschen in diesen Vierteln gelebt und teilten dadurch "ein kollektives Wohngedächtnis", das sich in einigen der Kunstwerke widerspiegele, so Nedo gegenüber der DW. Ziel der Ausstellung sei es, die vielen Facetten des Plattenbaus sichtbar zu machen - ohne zu vergessen, dass die Wohnkomplexe auch Schauplatz einer "schmerzhaften Transformation" waren, die durch die deutsche Wiedervereinigung ausgelöst wurde.
Wohnungsnot - eine dauerhaftes ProblemBezahlbaren Wohnraum in Großstädten zu finden sei seit mindestens 200 Jahren ein schwieriges Thema, sagt Kito Nedo. Und auch heutzutage scheine die Situation in vielen Teilen der Welt eher schlechter als besser zu werden.

Nach dem Ende Zweiten Weltkriegs war Wohnungsnot In Deutschland definitiv ein Problem. Viele Städte waren durch Bombenangriffe zerstört. Der Zustrom deutscher Flüchtlinge aus dem Osten verschärfte das Problem. Alte Gebäude zu renovieren war teuer, zumal viele Altbauten keine Heizung hatten und auch kein fließend warmes Wasser. Badezimmer waren nicht selten Gemeinschafträume außerhalb der Wohnungen.
Als Alternative startete das Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) im Oktober 1973 sein Wohnungsbauprogramm und versprach, die Wohnungsnot innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte zu beseitigen. Das kam gut an, die Nachfrage nach den neu gebauten Wohnungen war riesig. Die Neubau-Komplexe wurden zudem nicht nur als moderne Lösung für die Unterbringung einer großen Anzahl von Menschen beworben: Die SED-Führung pries sie als Verkörperung der sozialistischen Utopie.

Teil dieser idealistischen Vision war, dass auch Schulen, Kindergärten, Gewerbeflächen und Kulturzentren oder Jugendclubs in die Wohnkomplexe integriert wurden. Die Mieten wurden vom Staat subventioniert und konnte daher dementsprechend niedrig gehalten werden, was wirtschaftlich betrachtet natürlich eine "ökonomische Minusmission" war, so Kito Nedo.
Schmerzhafter Wandel nach der Wende1989 fiel die Berliner Mauer und aus der einstigen Utopie wurde bald eine Dystopie. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden viele der staatlichen Industriebetriebe der DDR aufgelöst; das führte zu einer hohen Arbeitslosenquote in den städtischen Ballungsräumen, die einst eigens für die Arbeiterfamilien entwickelt worden waren.
Die zunehmende Verzweiflung der Menschen schlug sich in Extremismus nieder. Heute werden die Nachwendejahre auch als "Baseballschlägerjahre" bezeichnet: eine Anspielung darauf, dass es viele Neonazis gab, die mit Baseballschlägern bewaffnet herumliefen. Die Zahl der rechtsextremen Gewaltverbrechen stieg zu der Zeit sprunghaft an und gipfelte in Städten wie Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen in fremdenfeindlichen Ausschreitungen.

Auch dieser Aspekt gehört zum Erbe der Plattenbauten und wird in der Potsdamer Ausstellung thematisiert, unter anderem durch eine Installation der Künstlerin Henrike Naumann, die Deutschland bei der Biennale in Venedig 2026 vertreten wird. In ihrer Installation "Triangular Stories (Amnesia & Terror)" stellt Naumann zwei Ecken von Zimmern aus Plattenbauwohnungen nach und zeigt in Videos zwei Jugendcliquen aus den frühen 1990er Jahren. In einem Video ist eine Gruppe von Ravern zu sehen, die sich mit Drogen berauschen, im anderen hängen drei Neonazis herum - eine inszenierte Version der jungen Leute, die wenige Jahre später die Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gründen sollten.
Persönliche Interpretationen erlaubtKurator Kito Nedo möchte die Kunstwerke für sich selbst sprechen lassen. Seine Auswahl konzentriert sich auf Kunst, die eine gewisse Ambivalenz ausdrückt und unterschiedliche Interpretationen zulässt.

Der Berliner Künstler Markus Draper stellt in "Grauzone" die Skelette gesichtsloser Plattenbauten nach. Die Zinkabgüsse sind Nachbildungen der Wohnblocks, in denen sich RAF-Terroristen in den 1980er-Jahren mit Hilfe der Stasi versteckt hielten.
Besonders bewegt hat den Kurator zudem eine Serie von Gemälden und Zeichnungen der Künstlerin Sabine Moritz. Sie reproduziert Details ihrer Kindheit in den 1970er-Jahren in Lobeda, einem Plattenbau-Vorort von Jena. Der Stil ihrer Zeichnungen ist naiv, ihre persönlichen Erinnerungen hingegen sind sehr präzise und spiegeln die vieler Menschen wider - schließlich lebte fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung der DDR zu irgendeinem Zeitpunkt in einer solchen Wohnsiedlung.

Nachdem der Plattenbau jahrzehntelang als problematischer Überrest der DDR galt, bekommt er nun eine neue Form von Aufmerksamkeit. Diverse Ausstellungen in Deutschland beschäftigen sich mit dem Architekturerbe jener Zeit, darunter auch das "Betonfestival"in Chemnitz (27.9.-18.10.2025) oder auch "Platte Ost/West" im Stadtmuseum Dresden (28.2.-29.11.2026) .
Es gehe dabei nicht darum, "Ostalgie" - also Nostalgie für die ehemalige DDR - zu zelebrieren, betont Kito Nedo. Plattenbauviertel seien lange Zeit von weiten Teilen der Bevölkerung ignoriert und vergessen worden. Die Ausstellungen sieht er als Gelegenheit, die Aufmerksamkeit wieder auf sie zu lenken und vielleicht auch als "Plädoyer, sich damit zu beschäftigen".
Adaption aus dem Englischen: Petra Lambeck
dw