INTERVIEW - «Es braucht den Papst mehr denn je. Als moralische Autorität in einer Welt, die auseinanderfällt», sagt der Kirchenhistoriker Hubert Wolf über den letzten absoluten Herrscher


Herr Wolf, am Mittwoch treten die stimmberechtigten Kardinäle zum Konklave zusammen. Ihr Tipp als Kenner: Wer wird Papst?
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Ich bin kein Kaffeesatzleser, sondern Historiker. Bei den letzten beiden Konklaven war die Situation relativ übersichtlich. Dieses Mal habe ich keinen Tipp, weil das Wahlgremium sehr disparat und weitgehend unbekannt ist.
Die letzten Konklaven waren relativ kurz. Benedikt wurde in vier, Franziskus in fünf Wahlgängen gewählt. Was denken Sie, wird es diesmal länger dauern?
Ich denke, es wird diesmal ein wenig länger gehen, ja. Aber nicht viel länger. Das Wahlgremium ist anders zusammengesetzt, viele Kardinäle kennen sich nicht. Manche kommen von irgendeiner Insel, waren einmal in Rom, haben den roten Hut abgeholt und sind wieder abgeflogen. Ich kann mir vorstellen, dass sie vielleicht neun Wahlgänge brauchen.
Also bis Ende dieser Woche gibt es einen neuen Papst.
Ich denke, ja. Bis Freitagabend.
Bei diesem Konklave ist einiges anders als bei den vorangegangenen. Die wahlberechtigten Kardinäle kommen aus über siebzig Ländern, und die Gewichte haben sich verschoben, weg von Europa, hin nach Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien. Was bedeutet das?
Es ist das grösste Konklave in der Geschichte der katholischen Kirche. Im Mittelalter haben jeweils um die zwanzig Kardinäle gewählt. In der frühen Neuzeit bis zu siebzig. Dann hat Johannes Paul II. die Höchstzahl auf hundertzwanzig festgelegt. Diese Zahl hat Franziskus nochmals überschritten. Und die Gewichte haben sich verschoben. Aber nicht so, dass es jetzt eine feste Partei des globalen Südens geben würde. Die Gruppe der neu ernannten Kardinäle ist sehr disparat. Ein Kardinal von einer Insel in der Nähe von Australien hat völlig andere Probleme und Erwartungen als einer aus Schwarzafrika oder aus Südkorea. Es ist auch für die Kardinäle selbst sehr schwer einzuschätzen, was das bedeutet. Sie müssen sich erst einmal finden.
Die Kardinäle aus Europa sind zahlenmässig in der Minderheit. Warum dominieren sie auf der Liste der Papabili nach wie vor?
Favorit können sie bei einem Wettbüro erst werden, wenn man sie kennt und man auf sie wetten kann. Anderseits sind die Voraussetzungen heute anders als bei der letzten Papstwahl. Damals, als Franziskus gewählt wurde, gab es ein beherrschendes Thema: die Kritik an der Kurie. Der Tenor war: Es braucht einen, der den Laden aufräumt. Eine unverbrauchte Kraft. Also am besten keinen aus der Kurie und keinen Italiener.
Und heute?
Heute dominieren ganz andere Probleme. Die Kurie, der Vatikan, steckt in einer Finanzkrise. Eigentlich können die Gehälter der Angestellten nicht mehr bezahlt werden. Kardinal Marx hat im Vorkonklave darüber berichtet. Jetzt ist jemand gesucht, der diese Situation in den Griff bekommt. Und dann stehen halt auf einmal wieder Kandidaten im Mittelpunkt, die die Kurie kennen und Verwaltungserfahrung haben.
Der nächste Papst muss also vor allem konsolidieren?
Ja, ich denke, nach dem Wirbel, den Franziskus veranstaltet hat, müsste jetzt jemand kommen, der dafür sorgt, dass der Laden nicht auseinanderfällt. Und vor allem, dass er nicht bankrottgeht. Das ist den Kardinälen durchaus bewusst.
Viele der wahlberechtigten Kardinäle sind von Franziskus ernannt worden. Was bedeutet das? Schwingt der Geist der Reform noch mit?
Auch die von Franziskus ernannten Kardinäle sind keine homogene Gruppe. Und was die Reform betrifft, bin ich skeptisch: War Franziskus ein Reformpapst? Nein, es gibt nach wie vor keine verheirateten Priester, Frauen werden nicht zu Diakoninnen geweiht, es gibt keine Verwaltungsgerichtsbarkeit, und Synodalität blieb ein leeres Wort: Haben die Bischöfe mehr Kompetenzen? Ist die Kurie verkleinert worden? Nein. Der Papst hat keine Macht delegiert und keine Macht abgegeben.
Aber er hat die Themen mindestens auf den Tisch gebracht?
Ja, aber er hat sich ja geweigert, die Konsequenzen zu ziehen. In der Amazonas-Synode haben die Bischöfe mit einer Vierfünftelmehrheit für die Zulassung verheirateter Priester gestimmt. Franziskus hat das einfach ignoriert. Das kann er natürlich tun. Mit Reform hat das allerdings nichts zu tun.
Aber vom Auftreten her hat Franziskus Zeichen gesetzt: der Verzicht auf Pomp und Luxus, die betonte Bescheidenheit. Kann ein nächster Papst wieder dahinter zurück?
Natürlich kann er das. Was der Papst entscheidet, gilt. Er repräsentiert Christus auf Erden und hat die Vollmacht, alles zu ändern, was nicht dogmatisch festgelegt ist. Und was die Bescheidenheit betrifft: Glauben Sie, dass es billiger war, die Sicherheit des Papstes im Gästehaus Santa Marta zu garantieren als im Apostolischen Palast? Natürlich wird man die Tiara, die dreifache Krone des Papstes, die in den 1960er Jahren abgeschafft wurde, nicht wieder aus dem Schrank holen. Aber das ist Fassade. Die umfassenden Vollmachten bleiben bestehen.
Im Konklave verpflichten sich die Kardinäle, den Mann zum Papst zu wählen, der nach Gottes Willen Papst werden soll. Was müsste der nächste Papst Ihrer Ansicht nach sein: ein Theologe, ein Politiker oder vor allem ein gewiefter Diplomat?
Ich würde ganz einfach sagen: Der nächste Papst muss katholisch sein. Und zwar katholisch im eigentlichen Sinn des Wortes: Er muss eine Weltkirche zusammenhalten und muss, wie es das griechische «kat’holon» sagt, auf das Ganze bezogen entscheiden und handeln. Und das heisst: Er muss die weltweit verschiedenen Verwirklichungsformen des Katholischen in unterschiedlichen Kulturen auf der Basis des einen Glaubensbekenntnisses zusammenhalten.
Eine Gratwanderung: Er muss am einen Ort Dinge verteidigen, die er an anderen Orten preisgegeben hat?
Er muss eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit ermöglichen. Dann hätte man zum Beispiel in der Schweiz verheiratete Priester und geweihte Frauen als Diakone. Und in bestimmten patriarchalisch geprägten Kulturen Afrikas oder Asiens noch nicht. Und trotzdem wäre die Kirche als Ganzes durch den Glauben an die Auferstehung Jesu Christi verbunden.
Wäre Franziskus insofern beispielhaft, gerade in dem Sowohl-als-auch, das er gepflegt hat?
Er hat eine offenere Gesprächskultur ermöglicht. Aber er hat das, was er als Seelsorger erfahren hat, als Papst nicht umgesetzt. Und das hätte er tun müssen, denn er war Papst. Er hat eine ungeheure Vollmacht. Und eine Vollmacht, die man hat, muss man dann irgendwann auch gebrauchen. Ich kann nicht Richter sein und kein Urteil fällen.
Die Macht des Papstes zeigt sich nicht zuletzt im Konklave, einem einmaligen, prunkvollen und eindrücklichen Prozedere. Aber ist es heute noch sinnvoll?
Ja, ich halte es nach wie vor für eine wunderbare Sache. Es ist ein Beispiel dafür, wie die Kirche aus der Geschichte hervorragend gelernt hat. Das Verfahren wurde ja immer wieder angepasst, aufgrund von Erfahrungen. Dass die Kardinäle von der Aussenwelt abgeschnitten sind, soll die Entscheidfindung beschleunigen und Einflüsse von aussen fernhalten. Im Lauf der Zeit wurde die Zweidrittelmehrheit eingeführt, um dem Gewählten mehr Autorität zu geben.
Aber das Konklave ist ja heute kein eigentliches Konklave mehr. Es gibt vorher Treffen, die Kardinäle sind in Rom, führen Gespräche, treffen Absprachen. Nichts von Abschottung.
Natürlich gibt es vorher diese Treffen. Aber im unmittelbaren Wahlvorgang, in diesen vier bis fünf Tagen, gibt es kein Handy, keine Tageszeitung, kein Fernsehen, kein Internet. Auch keine Treffen mit Bediensteten in Santa Marta. In dieser Zeit sind die Kardinäle ganz unter sich. Es kann nicht zu Beeinflussungen von aussen kommen. Und das Vorkonklave hat seinen guten Sinn: Da nehmen auch die über achtzigjährigen, nicht wahlberechtigten Kardinäle teil. Da wird analysiert: Wo stehen wir? Und die Kardinäle können sich gegenseitig kennenlernen.
Das Konklave ist auch eine grossartige Inszenierung der Macht der Kirche. Zelebriert Rom da nicht auch einen Zentralismus, den es so gar nicht mehr gibt?
Ich würde nicht sagen, dass es um Rom geht. Es geht in erster Linie um Christus. Und um die Kirche, die auf ihn zurückgeht. «Römisch-katholisch» lautet die Konfessionsbezeichnung in Deutschland und in der Schweiz. Das widerspricht sich. Aber genau darin zeigt sich die Spannung, die ein Papst repräsentieren muss: die Spannung zwischen römisch und katholisch. Zwischen der Weltkirche und dem Zentrum Rom.
Ist das heute noch vermittelbar?
Im westlichen Teil der Welt hat es Religion schwer. Aber auf dem Markt der Religionen, also im «god selling», wie die Soziologen das nennen, haben es die Religionen leichter, die einen starken Kern und eine gute Inszenierung haben. Insofern ist der Katholizismus mit dem Papst im Vorteil. Schauen Sie, wie viele Leute bei der Beerdigung von Papst Franziskus waren. Wie viele Millionen Menschen das am Fernsehen verfolgt haben. Und wie viele Menschen in den kommenden Tagen warten, bis aus dem Kamin der Sixtinischen Kapelle schwarzer oder weisser Rauch aufsteigt. Es gibt wenige Ereignisse, die weltweit so aufmerksam verfolgt werden.
Sie sind Konklave-Experte: Was sagen Sie zu «Conclave», der Verfilmung von Robert Harris’ Roman zur Papstwahl?
Ein hervorragend gemachter Film! Aber der Plot stimmt nicht ganz mit den Bestimmungen des Konklaves überein.
Er hat Fehler? Welche?
Sagen wir: Der Autor und der Regisseur haben sich dramaturgische Freiheiten genommen. Punkt eins: Ein «in pectore» ernannter Kardinal, wie Kardinal Benítez im Film, ist mit dem Tod des Papstes, der ihn ernannt hat, kein Kardinal mehr. Er hat keine Möglichkeit, sich zu legitimieren, und kann deshalb auch nicht anerkannt werden. Punkt zwei: Während des Konklaves sind nicht nur Handys verboten, sondern auch Mails. Dass Mails aus dem Gästehaus Santa Marta verschickt werden, ist unmöglich. Punkt drei: Kardinäle und Schwestern, die die Zimmer sauber machen und fürs Essen sorgen, begegnen sich nicht. Die Kardinäle gehen ins Konklave, während die Schwestern die Zimmer sauber machen. Dann wird ein Buffet aufgebaut, und wenn die Kardinäle wieder zurückkommen, sind die Schwestern weg. Und Punkt vier: Ein Hermaphrodit – und das ist ja der Gewählte im Film – kann nicht Papst werden. Gewählt werden kann ausdrücklich nur ein katholischer Mann. Es sind vier tolle Plots, aber viermal falsch.
Sie sagen, der Papst sei der letzte absolute Herrscher der Welt. Passt diese Figur überhaupt noch in unsere Zeit? Braucht es einen Papst?
Es braucht ihn vielleicht heute mehr denn je. Als Einheitspunkt und Anker in einer Welt, die auseinanderfällt. Der Papst hat zwar keine Divisionen, aber eine ungeheure moralische Autorität. Die er aber nur in die Waagschale werfen kann, wenn er und die katholische Kirche ihre Glaubwürdigkeit wieder gewinnen, die durch den entsetzlichen Missbrauch verlorengegangen ist. Dazu ist der erste Schritt, dass der neue Papst alle Akten seiner letzten fünf Vorgänger zu diesem Thema in den vatikanischen Archiven freigibt. Damit wir wissen, was sie getan oder auch nicht getan haben. Wer Glauben verkündet, braucht Glaubwürdigkeit. Und der oberste Garant des Glaubens, der oberste Zeuge des Glaubens ist der Papst. Und wenn der nicht glaubwürdig ist, dann glaubt ihm niemand.
Hubert Wolf ist Theologe und Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Bereits vor der offiziellen Öffnung der vatikanischen Archive durch Papst Johannes Paul II. hatte er Zugang zu bisher verschlossenen Akten. Seit März 2020 untersucht Wolf die Akten zum Pontifikat von Pius XII., der während des Zweiten Weltkriegs Papst war und nie öffentlich Stellung nahm zur Shoah. 2017 ist im Verlag C. H. Beck sein Buch «Konklave. Die Geheimnisse der Papstwahl» erschienen.
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