Ein Treffen mit Paulina Czienskowski in Berlin: So kraftvoll schreibt diese Frau

Feiertag in Berlin, die Straßen sind ungewohnt unbevölkert. Paulina Czienskowski wartet vor einer Kaffeehauskette unter dem S-Bahnbogen, mit Blick auf den Savignyplatz. Kuhmilchcappuccino. Anlass für das Treffen ist ihr kürzlich erschienener zweiter Roman mit den Themen Mutterschaft und weibliches Schweigen. Man darf froh sein, dass diese Autorin, im Gegensatz zu ihren Figuren, ihre Gedanken mit der Welt teilt, und sie trotz Kleinkind-Overload – „Ich bin eine Kugel beim Flippern: Haltlos knalle ich zwischen den Banden hin und her, hin und her, keine Aussicht auf Erholung“ steht in einem ihrer Texte – und einer seit Wochen verschleppten Erkältung Zeit für ein ziemlich spontanes Treffen findet. Zur Erinnerung: Feiertag!
Immer interessant, jemanden in echt zu treffen, den man aufgrund der Menge der im Internet kursierenden Fotos zu kennen glaubt. Abgesehen von einem hauchdünnen Katzenaugenkajalstrich ist sie ungeschminkt. An jedem Ohr klimpern drei silberne Ringe, an denen sie beim Sprechen gelegentlich spielt. Den Pony trägt sie berlinesk mikrokurz, die dem Jahrzehnt nach ihrer Geburt zuzuordnende Sonnenbrille wird sie während des Gesprächs niemals aufziehen, obgleich die Sonne blendet. Ansonsten: Schwarze Adidas-Trainingsjacke unter einer mit blauem Kunstfell besetzten Jeansjacke, Schlaghose, Mini-Bag. Back to the nineties! Lustig deswegen, weil sie sich ja eigentlich in das Gasgebejahrzehnt ihrer Mutter zurücksehnt, die Achtziger.
Ein Text über die MutterDie im Gespräch sehr nahbar wirkende 36-Jährige gehört der aussterbenden Art echte Berlinerin an. Aufgewachsen ist sie in Treffpunktnähe, lernte Fahrradfahren auf dem Kudamm, zog später nach Schöneberg, Wilmersdorf, Prenzlauer Berg, Mitte und in andere Städte, bevor sie sich auf ihre Wurzeln besann. Die anderen Städte: Greifswald, dessen provinziale Strukturen sie als wohltuend empfand, zum Kunstgeschichte- und Germanistikstudium, Paris wegen eines Praktikums. Ihr journalistisches Handwerk lernte sie dann wieder in ihrer Geburtsstadt, beim Tagesspiegel und einem Medium, das für ihre Familie ein rotes Tuch darstellte, und über das sie heute ungern spricht, wobei sie die besonders heiklen Pflichtstunden durch Krankheit umging. Von wegen rotes Tuch: Schon damals klopfte ein politisches Bewusstsein für patriarchale Strukturen und soziale Ungerechtigkeit in Czienskowskis Oberstübchen an.

Bekannt wurde sie unter anderem mit einem Text über ihre Mutter. Durch Zufall erfuhr die Tochter von deren wilder Vergangenheit als Model, Punkikone und Dschungel-Bartenderin, einer legendären West-Berliner Disco mit David-Bowie-Stammkundschaft. Zufall heißt: Ein Bondagemodedesigner lobte Iris Czienskowskis schöne Brüste. Ups! Der unbedingt lesenswerte Text geht der Frage nach, ob früher alles besser war, beziehungsweise warum die Erzeugerin so viel ungestümer und verschwenderischer lebte als ihre Tochter, getreu dem Motto „Wer sich an die 80er-Jahre erinnern kann, war nicht dabei“. So heißt es im Zeit Magazin: „Theoretisch bin ich so frei, wie die damals waren. Ich habe fast alle Möglichkeiten. Wenn ich zurückblicke, konnte ich nur selten nicht das tun, was ich wollte. Aber während ich mich in die Welt vor meiner Zeit vertiefe, merke ich, wie da immer wieder eine unbestimmte Sehnsucht in mir aufsteigt. Da ist diese Unbeschwertheit, das Unbedachte, Risikobereite, das ich nicht habe, das ‚Einfach machen‘."
Soziale Netze, um Berlin lebenswert zu machenFast zehn Jahre liegt die Veröffentlichung des Texts zurück, und dass die Tochter inzwischen „einfach macht“, ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil sie inzwischen selbst einen dreieinhalbjährigen Sohn hat. Mit dessen Vater, einem Musiker und Künstler, den sie auf einer Magazin-Release-Party kennenlernte, lebt sie fußläufig vom S-Bahnbogencafé entfernt. „Mit meinem Sohn gehe ich gerne auf den Spielplatz in der Knesebeckstraße, auf dem ich früher selbst spielte. Ich mag diese Neubesetzung, die Stadt mit Kinderaugen zu sehen.“ Die Transformation zur Charlottenburgerin scheint zumindest in Teilen vollzogen: „Mir gefällt, dass ich hier keine 120 Leute am Tag treffe, andererseits aber doch genug kenne, um meine sozialen Batterien aufzuladen.“

Passenderweise macht während des Gesprächs ein Trenchcoatträger vor ihr halt, mit dem sie zur Schule ging, kurzer Plausch, fast wie auf dem Dorfplatz. Es ist diese Art soziales Netz, das es Czienskowski zufolge braucht, um Berlin lebenswert zu machen. Mal angenommen, sie wäre Bezirkspolitikerin, was stünde sonst auf ihrer Agenda? „Spielstraßen und die Bezuschussung von Jugendzentren und Schulen. Um Eltern zu entlasten, aber auch, weil es sich lohnt, in Kinder zu investieren, als die Zukunft unserer Gesellschaft.“
Als eine, die einen Podcast namens „Wovor hast du Angst?“ hostete, liegt es nahe, auch ihr diese Frage zu stellen. „Dass aufgrund eines hierarchisierenden Menschenbilds die Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen führt. Dass psychosoziale Dienste abgeschafft werden. Und dass, wenn wir uns nicht verbinden über eine ernstgemeinte soziale und linke Politik, die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgeht.“ Besorgniserregend findet sie auch die Kürzungen des Kulturetats. „Was ist es denn, das Menschen in diese Stadt zieht? All die Denk- und Erfahrungsräume, das Inklusive, die freie Szene, nicht nur das 80-Euro-Opernticket.“ Berlin brauche vielleicht nicht sie als Person, aber Menschen, die mitgestalten. Zuletzt nennt sie die Angst vor Kontrollverlust. Zum einen dem als Mutter, wobei sie da gleichzeitig die Kontrolle bewahren, sprich ihr Kind vor Schaden schützen müsse. Zum anderen jenem über das eigene Bild, wenn zum Beispiel, das sagt sie mit einem Lachen, jemand daherkommt und ein Porträt über sie schreibt – dabei war das früher ihre journalistische Königsdisziplin.
Zu Recht füllen Bücher über Mutterschaft derzeit die RegaleWeil es ihrer Meinung nach eine starke linkspolitische Opposition braucht, ist sie deren Parteimitglied, „wobei es schon auch Kritik an der Linken gibt.“ Für echte Parteiarbeit fehle ihr allerdings die Zeit. Andererseits ähnelt ja auch ihr Schreiben einer gesellschaftskritischen Waffe, auch wenn es sich vom journalistischen mehr und mehr zum literarischen entwickelte. 2018 erschien im Korbinian Verlag das „Manifest gegen die emotionale Verkümmerung“, ein Aufruf zum naiven Glauben an die Liebe. Sein Nachfolger „Sich erinnern, man selbst zu sein“ ist als weiblicher Stream of Consciousness und Suche nach verdrängten Gefühlen zu verstehen.
In eine ähnliche Richtung geht ihr 2020 kurz vor dem Lockdown erschienener erster Roman „Taubenleben“, der recht selbstreferenziell – nicht zu verwechseln mit autofiktional – um die Identitätssuche einer Generation-Y-Angehörigen kreist. Komplexer ist die Anordnung des ebenfalls im Aufbau-Verlag erschienenen Folgetitels. Vier Generationen treten darin auf, eine junge, ultraüberforderte Mutter, deren eigene Mutter und Großmutter und das namenlose Baby. „Dem Mond geht es gut“ ist eine poetische Annäherung an die Frage, was wir weitergeben und auf welch vielfältige Art Frauen, vor allem wenn sie Kinder haben, zum Schweigen gebracht werden. Die leidige Frage nach dem Grad an Autofiktion muss leider gestellt werden.

Die 36-Jährige winkt ab. „Die Mutter im Buch ist nicht meine eigene, ebenso wenig die Großmutter. Es geht darum, mir Räume zu erschreiben, ohne dass jemand sagen kann: ‚So war es nicht‘.“ Ein wenig wie beim Flüsterspiel Stille Post, wo Details hinzugefügt und weggelassen werden, bis am Ende etwas ganz Neues entsteht. Sicher ist hingegen, dass Czienskowskis eigene Erfahrungen mit einem Neugeborenen ihren Weg in den Text fanden. „Entgegen meiner Absicht stellte ich nach der Geburt internalisierte misogyne Tendenzen bei mir fest, die Abwertung anderer Mütter zum Beispiel. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich übers Mutterwerden und Muttersein überhaupt schreiben darf. Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt: ‚Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen.‘ So was sickert ein.“ Gut, dass sie sich, wie mehr und mehr Autorinnen ihrer Generation, über diesen Alter-Weißer-Mann-Müll hinwegsetzt. Zu Recht füllen Bücher über Mutterschaft derzeit die Regale, von Antonia Baum über Rachel Cusk, Julia Weber und Daniela Dröscher bis hin zu Leslie Jamison, deren „Splitter“ Czienskowski regelrecht erschütterte, „diese universelle Erfahrung, die sich im schreibenden Denken spiegelt“. Interessiert habe sie sich für diese Art Literatur allerdings erst durch ihre eigene Schwangerschaft.
„Kinder saugen wie Schwämme alles um sie herum auf“Darüber hinaus geht es in „Dem Mond geht es gut“ auch um Sprachlosigkeit, um Frauen, die qua Erziehung keinen Raum einnehmen, und die Frage, ob wir so werden wie unsere Eltern. Die Einschätzung der Autorin: „Kinder saugen wie Schwämme alles um sie herum auf, entsprechend viel Verantwortung tragen ihre Bezugspersonen. Manchmal finde ich es unglaublich, dass es vor der Geburt keinen verpflichtenden Elternkurs gibt, so wie den Erste-Hilfe-Kurs vorm Führerschein. Aber die Wahrheit ist ja auch, dass nichts von dem, was passiert, vorhersehbar ist.“
Ihre eigene Mutter scheint jedenfalls mehr Vorbild zu sein als negative Projektionsfläche. „Eigentlich bin ich jetzt schon wie sie.“ Zumal Czienskowski auf keinen Fall noch mal zurück in ihre Zwanziger will, diese Zeit des „mentalen Schwimmens“. Und weg aus dem kulturetatgekürzten Berlin? Nein, dafür sei sie hier zu sehr verwurzelt. „Auch wenn ich dessen Grundrauschen manchmal verteufle, brauche ich es für mein Wohlbefinden.“ Ebenso braucht es offenbar schöpferische Arbeit, auch wenn Schreiben ein Stück weit Isolation bedeute. Letztes Jahr verfasste sie einen Text fürs Theater Heilbronn, inszeniert von der Regisseurin Lena Brasch, gelegentlich schreibt sie Hörstücke für den Deutschlandfunk, und auch für den Journalismus sei sie nicht ganz verloren.
Abgesehen davon denke sie viel nach, gerade über Zeit und deren Mangel: „Meine Notiz-App ist voll.“ Wo wir beim Thema Smartphone sind: Was ist ihr Berlinsoundtrack? Lebensphasenabhängig. Nach einem Blick in die Spotify-App nennt sie Lordes „What Was That“ und „Diet Pepsi“ von Addison Rae als aktuelle Popfavoriten, wobei sie meistens Hörbücher oder Podcasts bevorzuge, Sternstunde Philosophie etwa oder solche zur politischen Lage, „weil ich glaube, mich in jedem freien Moment mit Inhalt füttern zu müssen, weil die Zeit mit Kind so viel knapper geworden ist“. Vermutlich ist es auch jener Soundtrack, der das Gespräch an diesem dörflich anmutenden West-Berliner Feiertag bestimmt: das Rattern der S-Bahn und das Tuckern der Touristenrollkoffer.
Paulina Czienskowski: Dem Mond geht es gut. Roman. Blumenbar, März 2025. 192 Seiten, 22 Euro
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Berliner-zeitung