Ferienlektüre und -betrachtungen (III)

1 In dieser dritten und letzten Kolumne der Reihe mit Lektüren und Betrachtungen für die Feiertage weiß ich ganz genau, wo ich beginnen soll: „The End of the Long American Century: Trump and the Sources of American Power“ ( Foreign Affairs , Juli/August 2025, S. 68–79) ist der letzte Artikel des berühmten Joseph S. Nye, der im Mai dieses Jahres von uns gegangen ist.
Joseph Nye bedarf keiner ausführlichen Vorstellung. Er war ein führender Wissenschaftler, Politiker und Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Besonders berühmt wurde er durch die Prägung des Begriffs „Soft Power“, der den Einfluss und die moralische Anziehungskraft der euro-atlantischen liberalen Demokratie auf das 20. Jahrhundert beschreibt und es zum „Amerikanischen Jahrhundert“ machte, wie es der von Joseph Nye zitierte Henry Luce nannte.
In seinem letzten intellektuellen Testament (gemeinsam mit Robert O. Keohane verfasst) ist Joseph Nye dramatisch kategorisch:
Leider wird der kurzsichtige Fokus der zweiten Trump-Administration, die von ‚harter Zwangsgewalt‘ in Verbindung mit Handelsasymmetrien und Sanktionen besessen ist, zur Erosion, nicht zur Stärkung der von den USA geführten internationalen Ordnung führen. (…) Trump scheint nicht zu verstehen, wie Amerikas Stärke auf gegenseitiger Abhängigkeit beruht. Anstatt ‚Amerika wieder groß zu machen‘, setzt er auf Schwäche.“ (S. 79)
2 Dieses letzte, tragische intellektuelle Testament von Joseph Nye („University Distinguished Service Professor Emeritus an der Joseph K. Kennedy School of Government in Harvard“) sollte uns dazu veranlassen, die großen politischen und intellektuellen Traditionen noch einmal zu betrachten, die die Vorherrschaft der euro-atlantischen liberalen Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufrechterhielten.
Im Gegensatz zu dem, was heute von den populistischen Tribalisten der radikalen Rechten und Linken behauptet wird, basierte diese liberaldemokratische Tradition nicht auf einer monistischen ideologischen Orthodoxie der sogenannten „Eliten“.
Im Gegenteil, es basierte auf dem pluralistischen Paradoxon des sogenannten „Lebenszentrums“: dem zivilisierten Wettbewerb und der Rivalität zwischen drei großen politischen Traditionen, die zwar unterschiedlich waren, sich aber paradoxerweise in der Akzeptanz und Verteidigung allgemeiner Verhaltensregeln einig waren, die in der Regel in liberal-demokratischen Verfassungen verankert sind, welche diesen zivilisierten Wettbewerb und diese Rivalität regeln. Diese drei großen rivalisierenden politischen Traditionen umfassen im Allgemeinen (1) den Konservatismus, einschließlich der Christdemokratie, (2) den Liberalismus und (3) den Labourismus/die Sozialdemokratie/den demokratischen Sozialismus.
3 Beginnen wir mit dem Thema „Konservatismus“. Ein dringender Lese- und Reflexionsvorschlag ist „Conservatism: The Fight for a Tradition“ von Edmund Fawcett (Princeton & Oxford, 2020, 527 S.). Es handelt sich um eine meisterhafte, fast enzyklopädische Neuinterpretation der wichtigsten konservativen Strömungen – vom liberalen Konservatismus Edmund Burkes (1729–1797) bis zur Gegenwart, mit besonderem Schwerpunkt auf der Christdemokratie Konrad Adenauers (1876–1967).
Im Vorwort wirft Edmund Fawcett eine der zentralen Fragen unserer Zeit auf.
Während die Linke intellektuell und parteipolitisch auf dem Rückzug ist, dominiert nun die sogenannte Rechte. Doch um welche Rechte handelt es sich? Ist sie Ausdruck des liberalen Konservatismus, der die Erfolge der liberalen Demokratie nach 1945 begründete, oder handelt es sich um eine illiberale ‚harte Rechte‘, die behauptet, im Namen des ‚Volkes‘ zu sprechen? (S. XI)
4 Wenn wir uns nun dem Liberalismus zuwenden, so findet sich in „Freedom from Fear: An Incomplete History of Liberalism“ von Alan S. Kahan (Princeton & Oxford, 2023, 511 Seiten) eine meisterhafte, fast enzyklopädische Neuinterpretation der wichtigsten liberalen Strömungen – von Locke, Montesquieu und Adam Smith bis hin zu Rawls, Nozick und Friedman.
Unweigerlich schließt das Werk mit einem Kapitel (11) über „Liberalismus und Populismus“. Auch hier wird die Feindseligkeit des Populismus (den der Autor nicht nur mit der radikalen Rechten, sondern auch mit der radikalen Linken in Verbindung bringt) gegenüber der liberalen, parlamentarischen und rechtsstaatlichen Demokratie betont.
Der Autor erinnert an die Spaltung der radikalen Linken in den 1960er Jahren zwischen „populärer oder partizipatorischer Demokratie“ und „bürgerlicher oder parlamentarischer Demokratie“ und argumentiert, dass die heutigen Populisten (links und rechts) diese Dichotomie aufgreifen und „beklagen, dass die liberale Demokratie gescheitert sei, weil die wahre Stimme des Volkes von den Eliten unterdrückt worden sei“ (S. 419).
5 Zum Abschluss möchte ich Ihnen einen Lese-/Reflexionsvorschlag zum Thema Labour/Sozialdemokratie/Demokratischer Sozialismus unterbreiten. Ich entscheide mich für eine hervorragende intellektuelle Biografie „eines der größten und inspirierendsten Führungspersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts“ – laut Andrew Adonis, Autor von „Ernest Bevin: Labour's Churchill“ (Biteback Publishing, 2020, 352 Seiten).
Ernest Bevin (1881–1951), ein Arbeiter und langjähriger Gewerkschaftsführer sowie Vorsitzender der britischen Labour Party, war während des Zweiten Weltkriegs Arbeitsminister in der von Winston Churchill geführten Nationalen Koalitionsregierung. Nach dem militärischen Sieg im Mai 1945 und der darauf folgenden Wahlniederlage Churchills und der Konservativen Partei im Juli wurde Bevin Außenminister in der Labour-Regierung unter Clement Attlee.
Laut dem Autor des Buches war Bevin als Außenminister der Nachkriegsregierung Attlee (1945–1951) maßgeblich dafür verantwortlich, Stalin aus Westeuropa fernzuhalten. Er übernahm die Führung bei der Gründung Westdeutschlands, der NATO und des transatlantischen Bündnisses – all diese Staaten bilden bis heute die Grundlage für die europäische Demokratie und Sicherheit“ (Seite XI).
Kurz gesagt, schreibt Andrew Adonis: „Für die Zukunft Europas und der westlichen Zivilisation waren die sechs Jahre nach 1945 [als Bevin Außenminister war] ebenso entscheidend wie die sechs Jahre zuvor, in denen Churchill Hitler und den Nationalsozialismus besiegte“ (S. 12). Dies erklärt weitgehend den markanten Titel des Buches: „Ernest Bevin: Labour’s Churchill“ .
6 Ich schließe mit den Wünschen für schöne Feiertage und viel Spaß beim Lesen und Nachdenken. Ich hoffe, am 1. September wieder da zu sein.
observador