Wissenschaftliches Denken in der Wirtschaft?
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An der Autonomen Universität Barcelona begann Professor Salvador Cardús seine Erkenntnistheorie-Vorlesungen regelmäßig mit einer aufschlussreichen Übung. Er forderte seine Studenten auf, eine soziologische Analyse eines aktuellen Medienphänomens zu verfassen, etwa eines Amoklaufs an einer Schule in den USA. Die meisten Schüler tappten ausnahmslos in dieselbe Falle: Sie zogen hochtrabende Schlussfolgerungen über Jugendgewalt, Mobbing oder die Verbreitung von Waffen. Die Lektion lernte man jedoch später, als Cardús erklärte, dass derartige Vorfälle sich weltweit nicht einmal im Jahr wiederholten, so schockierend die Nachricht auch gewesen sei. Es handele sich daher nicht um ein soziologisches Phänomen mit kollektiven Wurzeln, sondern vielmehr um die Manifestation einer individuellen Pathologie, die auf die psychologische Dimension beschränkt werden müsse. Mit anderen Worten: Wir müssen vermeiden, die Ausnahme mit der Regel zu verwechseln.
Diese akademische Übung beinhaltet eine Erkenntnis, die auch für die Unternehmensführung von grundlegender Bedeutung ist. Und wenn in einer Organisation ein Problem auftritt, besteht der erste Schritt darin, klar festzustellen, ob es individueller oder kultureller Natur ist. Denn individuelle Probleme sind immer mit ganz bestimmten Menschen verknüpft, die zwar eine große Resonanzfähigkeit besitzen, jedoch keinesfalls die kollektive Essenz darstellen. Im Gegenteil, kulturelle Probleme sind solche, die sich systemisch und bereichsübergreifend wiederholen, da sie ihren Ursprung in der Regel in den Grundpfeilern des Unternehmens haben, wie etwa Prozessen, Richtlinien oder der Führung. Wenn es also nicht gelingt, das Problem auf diese Weise zu diagnostizieren, führt dies direkt dazu, dass ineffektive Lösungen vorgeschlagen werden, wie dies den armen aufstrebenden Soziologen passiert ist.
Der häufigste Fehler in der Unternehmensführung besteht darin, auf die Symptome und nicht auf die Ursachen zu reagierenNachdem ermittelt wurde, ob das Problem organisatorischer oder individueller Natur ist, besteht der nächste Schritt darin, herauszufinden, ob es vorübergehender oder struktureller Natur ist. Denn es gibt Schwierigkeiten, die zeitlich begrenzt und an konkrete Umstände gebunden sind (wie etwa eine Arbeitsspitze aufgrund eines einmaligen unvorhergesehenen Ereignisses), aber auch solche, die sich durch ihre Dauerhaftigkeit und Wurzeln auszeichnen (wie etwa eine mangelnde abteilungsübergreifende Koordination). Dieser grundlegende Unterschied hilft zu verstehen, ob das Problem aus einer rein adaptiven Perspektive oder als grundlegende Transformation angegangen werden sollte.
Um die Analyse der geschäftlichen Herausforderungen zu vervollständigen, gibt es eine dritte Klassifizierung, die sie in operative und strategische Herausforderungen unterteilt. Wie der Name schon sagt, wirken sich Erstere auf die alltägliche Ausführung aus und werden normalerweise auf der technischen Ebene gelöst, Letztere gefährden jedoch die langfristige Rentabilität, was eine Änderung der taktischen Ebene (oder sogar des Geschäftsmodells) erforderlich macht. In jedem Fall ist es für die Erzielung der erwarteten Ergebnisse wiederum entscheidend, die Bemühungen auf der richtigen Ebene zu konzentrieren.
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Und was ist das große Geheimnis, um diesen Dreifachfilter zu überwinden und Probleme zuverlässig zu diagnostizieren? Eigentlich sind dafür zwei Dinge entscheidend: Zeit investieren und eine wissenschaftliche Denkweise haben. Denn der häufigste Fehler in der Unternehmensführung besteht darin, auf die sichtbaren Symptome (die Folgen) einzuwirken und nicht die tiefer liegenden Ursachen (die Ursachen) zu bekämpfen. In diesem Sinne ist es sehr ratsam, sich auf die Lehren von Professor Salvador Cardús zu berufen, denn sie erinnern uns daran, dass das, was auffällt, nicht immer repräsentativ ist, dass das Verschreiben von Schmerzmitteln nicht alle Probleme heilt und dass es keine größere Zeitverschwendung gibt, als zu versuchen, die Welt zu verändern, wenn man nur einen Stuhl anpassen müsste.
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