Die Zahl der Autismusfälle hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Woran liegt das?


Von einer «alarmierenden Zunahme» sprach Robert F. Kennedy Jr., als er Mitte April vor den Medien die neusten Zahlen zur Häufigkeit von Autismus präsentierte: In den USA haben heute rund 3 Prozent der Kinder eine entsprechende Diagnose, in den 1980er Jahren waren es noch 0,04 Prozent. Im weiteren Verlauf der Pressekonferenz bezeichnete Kennedy, der neue US-Gesundheitsminister, Autismus als «Epidemie» und versicherte, bis September die «Umweltgifte» zu finden, die für die Entwicklungsstörung verantwortlich seien.
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Eine ganze Reihe von Studien will Kennedy dafür in Auftrag geben. Sie sollen untersuchen, ob etwa Lebensmittelzusatzstoffe, Pestizide oder Ultraschalluntersuchungen Autismus verursachen können. Auch die eigentlich längst verworfene Hypothese, dass Impfungen ein möglicher Auslöser seien, wird erneut überprüft.
Nicht nur in den USA ist die Zahl der Autismusdiagnosen gestiegen. Das Phänomen tritt weltweit auf. In England kam es zu einer Zunahme von fast 800 Prozent in zwanzig Jahren, in Deutschland zu einer Verdoppelung in den vergangenen zehn Jahren. Zur Situation in der Schweiz gibt es keine Daten. Doch auch hier sehen Experten und Institutionen den gleichen Trend. So hat sich etwa die Mitgliederzahl der Non-Profit-Organisation «Autismus Schweiz» seit 2013 verfünffacht.
Wie erklären sich Fachleute die Zunahme der Fälle? Und was ist bereits bekannt zu den Ursachen von Autismus?
Peter Vermeulen, einer der führenden Autismus-Experten in Belgien, findet es falsch, von einer Epidemie zu sprechen. «Die Situation ist nicht mit einer Infektionskrankheit vergleichbar, die durch einen Erreger ausgelöst wird», sagt der Heilpädagoge. «Bei Autismus gibt es keinen einzelnen Faktor als Ursache.» Vielmehr stecke ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Veranlagungen und Umwelteinflüssen dahinter.
Der als Verschwörungstheoretiker bekannte Kennedy verdächtigt die Masernimpfung als einen dieser Einflüsse. Dem widerspricht Vermeulen deutlich: Der Vorwurf, die Impfung führe zu Autismus, gehe auf eine gefälschte Studie aus den 1990er Jahren zurück, die längst zurückgezogen worden sei. Mehrere Untersuchungen haben inzwischen einen Zusammenhang zwischen dem Masern-Impfstoff und Autismus ausgeschlossen. So ist etwa in Japan die Zahl der Autismusfälle auch dann noch weiter angestiegen, als das Vakzin dort nicht mehr zur Anwendung kam.
Laut Vermeulen kann auch der Zeitpunkt der Diagnose zum falschen Verdacht auf die Impfung führen. Bei autistischen Kindern fällt oft im Alter von etwa 18 Monaten erstmals auf, dass sie anders mit ihrer Umwelt agieren als ihre Altersgenossen. Genau in dieser Lebensphase erfolgen auch viele Impfungen. «Dabei waren diese Kinder schon zuvor autistisch», sagt Vermeulen. «Denn die Ursachen dafür sind grösstenteils in den Genen zu finden.»
Gene, die zu Autismus führenStudien haben gezeigt, dass der Anteil der genetischen Faktoren an der Entstehung von Autismus bei 80 bis 90 Prozent liegt. Ist ein eineiiger Zwilling autistisch, ist es der andere meistens auch. Das heisst aber nicht, dass es einzelne Autismus-Gene gibt. Vielmehr liegt der Entwicklungsstörung eine riesige Anzahl verschiedener Gene zugrunde.
«Die Genetik hinter jedem Fall ist ganz individuell», erklärt Helene Haker, eine auf Autismus spezialisierte Psychiaterin aus Zürich. Die Mutationen liessen sich mit Sandkörnern vergleichen: «Sind genügend davon an ungünstigen Stellen im System, kann sich eine Störung entwickeln.»
Auch manche Umwelteinflüsse sind bereits bekannt. Eine mit Fieber verbundene Infektion bei Schwangeren im zweiten Trimester erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein autistisches Kind. Zudem gelten Schwangerschaftsdiabetes, gewisse Epilepsie-Medikamente und Luftverschmutzung als Risikofaktoren. Doch nichts davon dürfte für den massiven Anstieg der Autismusfälle in den vergangenen Jahren ausschlaggebend gewesen sein.
Ein Teil des Anstiegs lässt sich damit erklären, dass die Menschen in den Industrieländern immer später Eltern werden. Denn das Risiko, ein autistisches Kind auf die Welt zu bringen, steigt mit jedem Lebensjahr des Vaters und der Mutter.
Vermehrt auch Frauen diagnostiziertVor allem aber, davon sind die meisten Experten überzeugt, ist die Zunahme der Diagnosen auf eine erhöhte Sensibilität für das Störungsbild und auf veränderte Definitionen zurückzuführen. Diese Ansicht teilt der Psychiater Ludger Tebartz van Elst vom Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau. «Ich bemerke das bei mir selber», sagt er. «Heute diagnostiziere ich Menschen als autistisch, denen ich vor zwanzig Jahren keine oder eine andere Diagnose gegeben hätte.» Vermehrt seien das auch Frauen.
Zur Jahrtausendwende glaubte man noch, Autismus sei vorrangig bei Buben und Männern verbreitet. Man sprach sogar von einer Extremform des männlichen Gehirns. Heute ist unbestritten, dass es auch viele Autistinnen gibt. Nur unternehmen autistische Mädchen und Frauen oft grosse Anstrengungen, um sich anzupassen und ihr Anderssein zu verbergen. Dafür imitieren sie Verhaltensweisen nichtautistischer Menschen. Solche Fälle erkennen Fachleute wie Tebartz van Elst nun eher. «Wir sind einfach aufmerksamer», sagt er.
Definitionen für Autismus wurden verändertWas noch dazukommt: Die diagnostischen Kriterien haben sich seit den 1980er Jahren erheblich verändert. Die beiden international anerkannten Handbücher zur Klassifikation psychischer Störungen, das DSM und das ICD, haben ihre Definitionen für Autismus immer wieder angepasst.
Vor vierzig Jahren war vor allem vom frühkindlichen Autismus die Rede, der häufig mit einer geistigen Behinderung einherging. In den 1990er Jahren wurde neu auch die Diagnose Asperger-Syndrom eingeführt: Betroffene zeigen Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und ein stereotypes Repertoire von Interessen, ihre Intelligenz ist aber meistens normal ausgeprägt. Seit rund zehn Jahren werden die ebengenannten Kategorien gemeinsam mit dem atypischen Autismus zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst, die sehr unterschiedliche Formen einnehmen kann. Jeder Autist sei anders, heisst es.
Der Einfluss der veränderten Kriterien auf die Fallzahlen ist durch mehrere Studien belegt: Unter anderem zeigte eine dänische Untersuchung aus dem Jahr 2015, dass 60 Prozent des Anstiegs von Autismusdiagnosen bei Kindern auf Änderungen der Diagnosekriterien und einen stärkeren klinischen Fokus auf Autismus zurückzuführen waren.
Ein Tunnelblick für AutismusdiagnosenDas gesellschaftliche Bild von Autismus hat sich verändert. Heute wissen mehr Menschen, was Autismus ist. Das Stigma ist kleiner geworden, die Diagnose hat eine gewisse Attraktivität entwickelt und eine Abklärung wird auch in leichten Fällen angestrebt.
«Das ist alles gut», sagt die Psychiaterin Helene Haker. Doch manche Entwicklungen gingen ihr zu weit. «Nachdem sich früher meine Kollegen kaum trauten, die Diagnose zu stellen, haben manche heute einen Tunnelblick dafür entwickelt», sagt sie. Andere Diagnosen wie etwa Persönlichkeits- oder Traumafolgestörungen, die ähnliche Zustände erklären könnten, würden dadurch ausgeblendet.
Junge Menschen, die aufgrund solcher Störungen Mühe haben, sich in der Welt zurechtzufinden, bevorzugen laut Haker eine angeborene Neurodiversität als Erklärung, auch wenn sie nach klassischem Verständnis nicht autistisch sind. «Diese Leute suchen dann eine Fachperson nach der anderen auf, bis sie ihre Diagnose haben», erklärt die Psychiaterin.
Ähnliches nimmt auch der Heilpädagoge Peter Vermeulen wahr. «Autismus ist heute teilweise noch immer unterdiagnostiziert, vielfach aber auch überdiagnostiziert», sagt er. Einen Grund dafür erkennt Vermeulen auch bei den Influencern auf Instagram und Tiktok, die sich Experten nennen, aber ein einseitiges Bild von Autismus vermitteln.
Zu oft stünden dort Autisten im Zentrum, die kaum Schwierigkeiten in der Gesellschaft hätten. «Wisst ihr, wir sind nicht ‹Rain Man›», höre er in den sozialen Netzwerken immer wieder. Doch Leute wie Raymond aus dem Film «Rain Man», die in ihrem Alltag stark von Autismus eingeschränkt seien, gebe es wirklich, sagt Vermeulen.
«Gerade für diese Menschen braucht es mehr Forschung», findet er. Laut Vermeulen wäre es hilfreich, herauszufinden, wie solche Autisten in ihrem Leben besser zurechtkommen. Wie sie Jobs finden und sich in der Gesellschaft integrieren können. Das seien die Studien, die Robert F. Kennedy Jr. wirklich anstossen müsste, sagt er.
nzz.ch