Nach Israels Angriff auf die Hamas in Doha: Wird Istanbul das nächste Ziel?


Auch Tage nach Israels Schlag gegen die Hamas in Doha ist unklar, ob die Anführer der palästinensischen Terrororganisation in Katar noch am Leben sind und, wenn ja, wo sie sich befinden. Nach Angaben der Hamas haben die wichtigsten Funktionäre um Khalil al-Hayya die Luftangriffe überlebt. Von israelischer Seite gibt es dafür aber noch keine Bestätigung.
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Stattdessen betonte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Donnerstag, dass Israel die Hamas zerstören werde: «Es gibt keinen sicheren Hafen für diejenigen, die für das schreckliche Massaker vom 7. Oktober verantwortlich sind. Die Botschaft ist klar: Ihr habt keinen Zufluchtsort. Es gibt keinen Ort, an dem wir euch nicht erreichen können.» Rückt damit ein Angriff auf die Hamas in Istanbul in den Bereich des Möglichen?
Neben Doha ist die türkische Metropole ein Refugium für Hamas-Funktionäre im Ausland. «Seit Beginn der 2000er Jahre, also seit dem Aufstieg der AKP unter Recep Tayyip Erdogan, halten sich Hamas-Mitglieder in der Türkei auf», sagt Walter Posch, Nahostexperte an der Landesverteidigungsakademie in Wien.
Bislang fühlte sich die Hamas in Doha und Ankara sicherDie Hamas steht ideologisch der Muslimbruderschaft nahe. Die grösste islamistische Organisation der arabischen Welt ist vor fast hundert Jahren in Ägypten gegründet worden und agiert vorwiegend im Untergrund. Von den meisten autoritären Herrschern in der arabischen Welt wird die Muslimbruderschaft als Bedrohung wahrgenommen. Das Emirat Katar allerdings liess die Organisation gewähren – genauso wie die Türkei unter Präsident Erdogan.
Doha und Ankara arbeiteten darüber hinaus bei der Unterstützung ihrer Verbündeten in Libyen und Syrien zusammen. Als 2017 das Königreich Saudiarabien gemeinsam mit Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten über Nacht seine Luft-, See- und Landgrenzen zu Katar schloss und das Emirat unter anderem wegen dessen eigenständiger Aussenpolitik dreieinhalb Jahre lang boykottierte, eilte die Türkei dem kleinen Golfstaat zu Hilfe: Die beiden Länder bauten ihren Handel aus und weiteten ihre militärische Zusammenarbeit aus.
Wie wahrscheinlich ist ein Angriff auf Istanbul?«Katar und die Türkei unterstützen den Diskurs der Muslimbruderschaft und bilden in dieser Hinsicht eine Allianz», sagt der Nahostexperte Posch. In beiden Ländern konnten sich auch die Mitglieder der Hamas, die sich im Gegensatz zu den Muslimbrüdern als bewaffnete Befreiungsorganisation sieht, bislang sicher fühlen. Katar beherbergt die politische Führung der Hamas seit 2012 – weil der damalige amerikanische Präsident Barack Obama einen indirekten Gesprächskanal zur Hamas einrichten wollte.
«Das Geld der Hamas befindet sich in Katar», sagt Posch. «Die Frage ist: Was befindet sich in Istanbul?» In der Türkei unterhalte die Hamas nicht einmal ein offizielles Büro. «Heute sind dort einige Dutzend Führungskader der Organisation. Sie haben Zugang zu den höchsten politischen Kreisen und werden geduldet, arbeiten aber unter grossen Restriktionen. Sie können also nicht ohne weiteres ihre Organisationsstruktur in der Türkei aufbauen.»
Würde Israel dennoch einen Luftangriff gegen Hamas-Funktionäre im Nato-Mitgliedsland Türkei durchführen?
«Vor ein paar Tagen wäre diese Frage noch undenkbar gewesen», sagt Nimrod Goren. Der Leiter der israelischen Denkfabrik für Aussenpolitik Mitvim hält einen israelischen Luftangriff in Istanbul trotz dem Überraschungsangriff in Katar für unwahrscheinlich. «Die Türkei und Katar sind sehr unterschiedlich: Israel und die Türkei unterhalten seit 1949 kontinuierlich diplomatische Beziehungen, trotz all den Höhen und Tiefen.»
Die Türkei und Israel verfolgen unterschiedliche ZieleMomentan haben diese Beziehungen allerdings einen Tiefpunkt erreicht: Ende März flehte Erdogan Gott an, das «zionistische Israel» zu zerstören. Flugverbindungen zwischen Tel Aviv und Istanbul sind seit dem 7. Oktober 2023 ausgesetzt, die Türkei hat den Handel mit Israel eingestellt. Jüngst deklarierte Benjamin Netanyahu den türkischen Massenmord an Armeniern 1915 und 1916 als Genozid, was die Türkei scharf verurteilte.
Auch in Syrien prallen die unterschiedlichen Interessen der Türkei und Israels aufeinander. «Die Türkei unterstützt die neuen Machthaber in Damaskus – genau wie die USA und Grossbritannien», sagt der Nahostexperte Posch. «Ankara hat Interesse am Aufbau einer Armee in Syrien, also daran, die verschiedenen Milizen in einer Kommandostruktur zusammenzufassen. Israel ist dagegen – ohne klarzumachen, wie der syrische Sicherheitsapparat aussehen soll.» Dennoch weht immer noch die türkische Flagge über der Botschaft in Tel Aviv, und auch Israel unterhält weiterhin eine diplomatische Vertretung in Ankara.
Israel nimmt Terroristen ins VisierNicht nur die zwischenstaatlichen Beziehungen, auch der Status der Türkei als Nato-Mitgliedsland dürfte Israel laut Nimrod Goren vor einem Luftangriff in Istanbul abschrecken. «Wir sehen momentan im Fall von Polen, welche Konsequenzen es hat, wenn ein Nato-Mitgliedsland behauptet, angegriffen zu werden», sagt der israelische Politikwissenschafter. «Ausserdem ist Israel Mitglied im Nato-Mittelmeer-Dialog. Ein Angriff auf türkisches Staatsgebiet ergäbe keinen Sinn.»
Selbst wenn Israel auf eine Bombardierung in der Türkei verzichtet, bedeutet das allerdings nicht, dass der jüdische Staat die Hamas-Kader in Istanbul verschonen wird. «Israel hat eine lange Geschichte von Operationen, in denen es auf diskrete Weise Terroristen auf der ganzen Welt ins Visier genommen hat», sagt Goren. Ein Beispiel ist etwa der fehlgeschlagene Mordanschlag auf Khaled Mashal 1997 in Jordanien: Mossad-Agenten versuchten, den damaligen Hamas-Chef zu vergiften. Mashal nahm laut arabischen Medienberichten ebenfalls an dem Treffen in Doha teil – und soll den israelischen Angriff erneut überlebt haben.
nzz.ch