Krise akut: Die Chemie fürchtet eine Kettenreaktion

Die Zahlen sind auf den ersten Blick nicht groß. Mal fallen 100 Jobs weg, weil eine Chemieanlage schließt, mal sind es 300 - bei insgesamt einer halben Million Beschäftigten in der Chemie- und Pharmaindustrie. Doch die Nachrichten summieren sich und hinzukommen Tausende gefährdete Jobs in Konzernverwaltungen. „In unserer Industrie gehen auf breiter Front Arbeitsplätze verloren”, sagt Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Gewerkschaft IGBCE: „Was wir gerade erleben, ist beispiellos.“
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) wird also wenig Erfreuliches hören, wenn er an diesem Montag zum Kongress der IGBCE nach Hannover kommt. Alle vier Jahre tagt die Gewerkschaft, und aus der Hoffnung auf Aufbruch von 2021 ist massive Sorge geworden. Sir Jim Ratcliffe, Eigentümer des britischen Ineos-Konzerns, forderte jüngst die europäische Politik auf, „die Chemieindustrie zu retten”: Geschehe nicht schnell etwas, „gibt es bald keine Chemieindustrie mehr, die man retten muss“.
Ineos wird mehrere Standorte schließen, und der US-Riese Dow hat angekündigt, an seinen mitteldeutschen Standorten mehrere Anlagen stillzulegen. 550 Arbeitsplätze sind direkt in Gefahr, aber die IGBCE fürchtet eine Kettenreaktion. Denn in der Chemie kippt leichter als anderswo ein ganzes System: Einzelne Anlagen sind meist Teil einer langen, oft durch Pipelines verbundenen Wertschöpfungskette - ein Dominostein fällt selten allein. Dies sind die Gefahren:
Anfang des Jahres keimte noch Hoffnung. Nach sechs Jahren Schrumpfung - nur 2021 brachte nach dem Corona-Einbruch eine Erholung - meldete die deutsche Chemieindustrie eine Stabilisierung der Nachfrage. Doch der Welthandel leidet unter den US-Zöllen, und die Impulse, die sich ganz Europa von den Ausgabenprogrammen der neuen Bundesregierung erhofft, sind nicht zu spüren. „Die Chemieindustrie rechnet bis ins kommende Jahr hinein nicht mehr mit einer konjunkturellen Belebung. Auch politisch ist noch keine Trendwende zu erkennen“, klagt der Verband der Chemischen Industrie (VCI).
Vor allem Anbieter aus China, die zuhause selbst mit Überkapazitäten kämpfen, suchen neue Märkte und finden sie in Europa. Entsprechend steigt hier der Preisdruck vor allem bei einfachen Produkten, den sogenannten Basischemikalien. Bei der EU-Kommission laufen diverse Antidumpingverfahren gegen China, im September hat sie hohe Zölle auf die in vielen chemischen Prozessen verwendete Glyoxylsäure verhängt. Doch aus Sicht der Industrie passiert zu wenig zu langsam.
Für Preiskämpfe ist die Branche schlecht gerüstet, denn sie steckt in einem aufwendigen Umbau hin zu klimaneutraler Produktion. Diese Transformation bedeutet nicht nur hohe Investitionen, sondern völlig andere Prozessketten. Doch die dafür nötige neue Infrastruktur gibt es zum Teil gar nicht - zum Beispiel für Wasserstoff. Die Kritik der Chemieindustrie deckt sich mit der des Autosektors: Die Politik setze ehrgeizige Klimaziele, schaffe aber nicht die Bedingungen, um sie zu erreichen.

Ein weiterer Kostenfaktor soll hinzukommen: CO2-Zertifikate, mit denen Unternehmen das Recht auf Emissionen erwerben, werden verknappt und damit teurer. Das gilt als marktwirtschaftlicher Weg, klimaschonende Produktion zu fördern - führt aber nur zu höheren Kosten, so lange diese Umstellung technisch gar nicht möglich ist. „Statt der reinen Lehre brauchen wir Pragmatismus“, sagt Vassiliadis.
Die Chemieindustrie war lange der größte Profiteur billigen russischen Gases. Lieferstopp und Preisanstieg haben sie entsprechend heftig getroffen. Aber auch Strom, auf den man für klimaneutrale Produktion ohnehin zurückgreifen müsste, ist in Deutschland teuer. Die Folgen hat Ineos vorgerechnet: Gegenüber Konkurrenten aus anderen Weltregionen habe der Kölner Konzernstandort 100 Millionen Euro Kostennachteil beim Gas, 40 Millionen Euro beim Strom und 100 Millionen Euro für CO2-Zertifikate. Über den lange diskutierten Industriestrompreis verhandelt die Bundesregierung noch mit der EU-Kommission.
Von „Monsterbürokratie und irrer Regulation aus Brüssel“ spricht VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. Umwelt- und Verbraucherschutzverbände sehen das naturgemäß anders. Angesichts der ersten von Brüssel angestoßenen Lockerungen warnte ein BUND-Sprecher im Sommer bereits vor „dem Abbau mühsam erreichter Verbraucherschutzstandards“.
Auch die Unternehmen können Bürokratie: Alle Großen gestehen zu, dass sie in den guten Jahren zu unbeweglich geworden sind. Der neue Bayer-Chef Bill Anderson fand 2023 zwölf Hierarchiestufen vor - die er nun heftig ausdünnt. Der neue BASF-Chef Markus Kamieth meldet stolz, dass er innerhalb eines Jahres jede zehnte Führungsfunktion gestrichen habe.
Unternehmen und Gewerkschaften warten nun gleichermaßen darauf, dass die neue Bundesregierung ihren Ankündigungen Taten folgen lässt - zum Beispiel die im Koalitionsvertrag vereinbarte „Chemieagenda 2045″ aufstellt. An Verständnis kann es dem Kanzler nicht mangeln: Friedrich Merz begann seine Karriere beim Verband der Chemischen Industrie.
rnd