Handy gesperrt, Kind online: Warum digitale Elternkontrollen so oft versagen


Illustration Simon Tanner / NZZ
Die Ruhe ist normalerweise ein Warnzeichen. Kein Protest. Kein Fragen nach Bildschirmzeit. Man schaut ins Wohnzimmer. Hat das Kind, als man hereinkam, eine schnelle Bewegung gemacht, um das Handy zu verstecken, oder war das Einbildung? «Mama, es ist meine normale Screen-Time, ich habe noch zehn Minuten», tönt es vorwurfsvoll vom Sofa. Man schaut mit leichtem Misstrauen auf das Kind. Kann eine Stunde wirklich so lang sein?
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20 Minuten «Brawl Stars», 20 Minuten Tiktok, Spotify grosszügiger, Hörspiele sind schliesslich nicht des Teufels. Whatsapp: Ja. Das Kind soll mit seinen Freunden abmachen und die lieben Eltern im Notfall erreichen können. Der Vater hat auf der Kontroll-App alles sorgsam eingestellt. «Ich muss aufmerksam sein», denkt man sich – und vergisst am Abend doch wieder, die Bildschirmzeit zu überprüfen.
Ende Woche übertrifft der Blick in die Eltern-App die schlimmsten Befürchtungen. Obwohl in der Woche in mehreren Fächern Tests stattfanden, war das Kind pro Tag vier bis fünf Stunden am Handy. Ein Schock. Die Eltern fühlen sich ausgetrickst und ärgern sich.
Zuerst über die eigene Naivität. Und danach, und zwar richtig, über die Parental Controls, die Kindersicherungs-Apps, die voller Löcher sind.
Die gängigsten Sperren kommen von Apple (Screen-Time/Bildschirmzeit), Google (Family-Link) und Microsoft (Family-Safety). Ohne Zusatzkosten kann man damit die Bildschirmzeit beschränken, den Download von Apps verweigern und Gewaltdarstellungen und Pornografie herausfiltern.
Grundsätzlich. Doch immer wieder wird man übers Ohr gehauen. Die Zeitbeschränkung dehnt sich zur Unendlichkeit, und auf wundersame Weise hat sich das Kind Zugang zu dem Spiel verschafft, das man doch sicher gesperrt geglaubt hatte.
Oder der Inhaltsfilter versagt unabhängig von den Parental Controls – wie am 26. Februar 2025 bei Instagram – und Kinder und Jugendliche sehen plötzlich Bilder und Videos voll von Gewalt, Mord, Unfällen und Pornografie in ihrem Reels-Feed.
Kindersicherung oder Placebo?Warum nur, denkt man, haben die Tech-Konzerne, die doch sonst alles können, das nicht im Griff? Steckt dahinter Unfähigkeit oder böser Wille?
Tatsächlich hat die Trickserei viel mit ökonomischer Logik zu tun. «Je besser der Jugendschutz, desto weniger Umsatz», sagt Daniel Wolff, Digitaltrainer und Autor des Smartphone-Elternratgebers und «Spiegel»-Bestsellers «Allein mit dem Handy».
«Wer weniger am Handy ist, hat kürzere Nutzungszeiten.» Das sei nicht im Interesse der digitalen Industrie. Denn: Wer kürzer am Handy ist, schaut weniger Werbung oder tätigt weniger In-App-Käufe, etwa von Skins für digitale Helden oder Goldtalern für den Aufstieg in eine neue Liga. Nicht gut für die Firmen, die ihre digitalen Produkte über Apples App-Store oder Googles Play-Store vertreiben.
Die Tech-Konzerne, sagt der Digitaltrainer Wolff, bauen zwar nicht absichtlich schlechte Kindersicherungen, aber sie handeln achtlos. «Der Profit hat Vorrang.» Dass sich die Sicherungen so einfach austricksen lassen, sei die Folge einer «elenden Fahrlässigkeit» der Firmen. Dass sie damit durchkommen, hat einen einfachen Grund: «Solange sich die Eltern mit dem Gebotenen zufriedengeben, gibt es keine Kläger», so Wolff.
Startups haben keine ChanceWenn die Lösung vom Platzhirsch nicht gut genug ist, springen häufig innovative Startups in die Lücke. Das kennt man aus vielen Wirtschaftsbereichen, von der Finanzbranche zum Beispiel oder auch dem Detailhandel. Nur: Bei den digitalen Handy-Sperren funktioniert das nicht oder nur sehr beschränkt.
Erstens erlauben Apple und Google Drittanbietern oft nur einen sehr begrenzten Zugang zu ihren Plattformen. So ist es für Drittanbieter extrem schwer, systemweite Bildschirmzeit-Kontrollen auf iPhones umzusetzen.
Zweitens lässt sich mit Kinder-Kontroll-Apps kaum Geld verdienen. Ein «virales» Wachstum gibt es in diesem Segment nicht. Anders als bei Games empfiehlt niemand begeistert eine App, die den Kindern das Handy sperrt.
Anforderungen an den Datenschutz machen die Kommerzialisierung zudem anspruchsvoll. Startups haben weniger Ressourcen als die Tech-Riesen, um alle Datenschutzanforderungen und regulatorischen Vorgaben sauber zu erfüllen. Investoren an Bord zu holen, ist für sie deshalb nicht einfach.
Eltern erwarten kostenlose oder günstige Lösungen, zumal die Handyhersteller selbst schon Programme anbieten. Startups, die über Abos Geld verdienen wollen, müssten diese qualitativ weit übertreffen, um attraktiv zu sein.
«Drittanbieter haben es sehr schwer, denn sie müssen ihre Programme bei Betriebssystemänderungen immer nachträglich anpassen», sagt Wolff. Auch er selbst empfehle dies Apps nicht. «Wenn es Sicherheitslücken gibt, dauert es meist noch länger als bei Apple oder Google, bis diese wieder gestopft sind.»
Eltern setzen deshalb lieber auf bekannte Marken. Apple, Google und Microsoft wirken vertrauenswürdiger als ein Startup mit Sitz in Singapur. Auch Lehrkräfte, Schulen und Behörden empfehlen meist die etablierten Anbieter, was den Markt weiter abschottet.
Kontrolle ist keine ErziehungWer die Schuld für die leichte Umgehbarkeit allerdings allein bei den Tech-Konzernen sieht, macht es sich zu leicht. Die Tech-Konzerne bauen die Features ein, Kinder wollen sie umgehen. «Es ist wie ein Katz-und-Maus-Spiel», sagt Eva-Maria Maier, Expertin für IT-Sicherheit. Die Kinder sind einfallsreich, kreativ und technisch deutlich versierter als ihre Eltern. Bereitwillig wird auf Tiktok und Instagram geteilt, wie die Sperren umgangen werden können.
Nur dreissig Minuten Youtube-Zeit? Dann schickt man sich das Video auf Whatsapp und schaut es dort. Ein weiterer Trick: Nach jeder Nutzung wird die App gelöscht. Die Gamezeit ist dann je nach Kontroll-App nicht ersichtlich. Ein neuer Trend: Influencer laden ihre Videos auf Spotify hoch. «Einige machen damit Millionen», verrät der Sohn. Viele Eltern sind bei Spotify weniger streng, bei Musik und Hörbüchern wittert man kein Suchtverhalten. Ein neues Schlupfloch, bis es die Erwachsenen entdecken.
Für die Tech-Konzerne sei die Situation anspruchsvoll, sagt Maier. Sie stünden vor einem schwierigen Balanceakt zwischen Gewinnstreben, Schutz der Privatsphäre, regulatorischen Anforderungen und Benutzerfreundlichkeit. Zudem muss die Kindersicherung zur Altersgruppe passen. Ein Vierzehnjähriger braucht mehr Freiraum als eine Siebenjährige. In diesem Dschungel, so Maier, sei es nicht verwunderlich, dass immer irgendetwas nicht passe.
Kommt hinzu: Viele exzessive Aufenthalte im Internet haben nichts mit mangelhaften Apps zu tun, sondern mit anderen Einfallstoren. Die beste technische Lösung hilft nicht, wenn das Kind vom Taschengeld heimlich ein Zweitgerät kauft, den Sperrcode kennt und vom Handy der Eltern aus fröhlich die Kindersicherung aushebelt, den Schulcomputer zweckentfremdet oder bei Freunden der digitalen Masslosigkeit frönt.
Wer unzufrieden ist, findet ausserhalb des App- und Play-Stores Programme, die mehr Kontrolle erlauben. Bei diesen ist aber grundsätzlich Vorsicht geboten. «Manche Programme werden als Kinderschutz-App vermarktet, dienen in Wahrheit aber der heimlichen Überwachung – etwa des Partners», sagt die IT-Sicherheitsexpertin Maier, die dazu gerade eine wissenschaftliche Arbeit verfasst hat.
Unter Umständen installiert man so eine Software, die eigentlich auf Stalking ausgerichtet und sehr datenhungrig ist. Eltern seien sich häufig zu wenig bewusst, dass heikle Daten ihrer Kinder nicht nur auf ihrem eigenen Gerät, sondern auch auf Servern der Anbieter gespeichert würden, sagt die Forscherin Maier. Vor dem Herunterladen solcher Programme sollte man deshalb unbedingt prüfen, wie ernst es der Anbieter mit dem Datenschutz nimmt.
Leonie Tanczer, Assistenzprofessorin für internationale Sicherheit und neue Technologien am University College London, macht auf einen anderen Punkt aufmerksam. Wenn es für die Kinder normal sei, dass die Eltern sie überwachten, sähen sie es später vielleicht auch als normal an, ihren Partner zu überwachen. Solche Verletzungen der Privatsphäre gelte es unbedingt zu vermeiden.
Die unbequeme WahrheitDer Wunsch, eine smarte, umfassende, altersgerechte und pädagogisch vertretbare App für die Mediennutzung der Kinder zu bekommen, bleibt deshalb wohl ein Traum. Und es wächst die Einsicht: Technik gibt nur Scheinsicherheit – entscheidend ist die Erziehungsarbeit. Medienpsychologen sagen das schon lange.
Die beste Kinderschutz-Software seien anwesende Eltern, sagt der Digitaltrainer Daniel Wolff. Und man ahnt: Die Katze muss der Maus eben immer selbst hinterherjagen.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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