Der Bau-Turbo der Regierung ändert an der deutschen Wohnungsmisere nur wenig


Rupert Oberhäuser / imago
Wer als Normalverdiener in einer deutschen Grossstadt nach einer Mietwohnung Ausschau hält, die weniger als ein Drittel des Nettoeinkommens verschlingt, der sucht die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Denn Wohnungen sind knapp und teuer. So teuer, dass Singles im Mittel für eine neu angemietete Wohnung in München 40 Prozent ihres Nettoeinkommens auf den Tisch legen müssen. In Hamburg und Berlin sieht es mit einem Mietanteil von jeweils 36 Prozent kaum besser aus.
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In den vergangenen 10 Jahren sind die Mieten für im Internet angebotene Wohnungen mit einer Fläche zwischen 40 und 100 Quadratmetern im Schnitt um 50 Prozent gestiegen. In Berlin haben sich die Neumieten gar verdoppelt, wie eine Auswertung des Bauministeriums auf Basis von Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung zeigt. Mehr als 18 Euro müssen Wohnungssuchende in der Bundeshauptstadt pro Quadratmeter im Schnitt zahlen, wollen sie eine Neubauwohnung mieten. In München, der nach wie vor teuersten Stadt Deutschlands, sind es sogar mehr als 22 Euro, wie eine Studie des Forschungs- und Beratungsinstituts Empirica zeigt.
Hypothekenzinsen sind gesunkenEine rasche Besserung der Lage für Mieter ist nicht in Sicht. Seit rund drei Jahren befinden sich die Investitionen in den Wohnungsbau auf Talfahrt. Zwar haben sich die Baugenehmigungen in den ersten vier Monaten dieses Jahres nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 4,3 Prozent erhöht. Doch war dies allein dem gestiegenen Interesse von Bauherren an Einfamilienhäusern zu verdanken, von denen 15,4 Prozent mehr genehmigt wurden als im Vorjahreszeitraum.
Ausschlaggebend dafür dürften die gesunkenen Zinsen für Hypothekenkredite sein. Für eine zehnjährige Zinsbindung müssen Kreditnehmer derzeit im Schnitt 3,6 Prozent Zinsen zahlen. Ende 2023 hatten die Finanzierungskosten noch bei 4 Prozent gelegen. Zudem sind die Löhne in den vergangenen zwei Jahren etwas stärker als die Verbraucherpreise gestiegen, das reale Plus betrug pro Jahr etwa 1,5 Prozent. Das hat Einfamilienhäuser wieder so erschwinglich gemacht wie in der Zeit von 2006 bis 2010.
Projektentwickler leiden unter hohen BaukostenAnders sieht die Lage jedoch beim Bau von Mietwohnungen aus. Die Anzahl der Baugenehmigungen von Mehrfamilienhäusern sank in den ersten vier Monaten dieses Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 0,1 Prozent. Und das, obwohl die Nachfrage nach Mietwohnungen nicht zuletzt als Folge der wachsenden Bevölkerung boomt.
Viele Projektentwickler leiden darunter, dass die Baukosten, die ihnen die Bauunternehmen in Rechnung stellen, in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen sind, während die Verkaufspreise für Immobilien sanken. «Die Relation zwischen den Verkaufserlösen der Projektentwickler und ihren Zahlungen an die ausführenden Bauunternehmen ist so schlecht wie noch nie seit der Wiedervereinigung», schreiben die Ökonomen der Commerzbank in einer aktuellen Studie zum deutschen Immobilienmarkt. Wegen der geschrumpften Gewinnmargen setzen die Projektentwickler zunächst alles daran, die Preise zu erhöhen, statt neue Projekte in Angriff zu nehmen, wie die Commerzbank-Volkswirte erwarten.
Der Höhenflug der Baukosten habe dazu geführt, dass bei der Vermietung von Neubauten vielfach eine Nettokaltmiete (Miete ohne Nebenkosten wie Strom, Gas und Wasser) von 18 bis 20 Euro je Quadratmeter erforderlich sei, um die Kosten zu decken, heisst es in einem Positionspapier des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). Mietpreise auf diesem Niveau können sich nur wenige Mieter leisten. Das nährt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die zu 53 Prozent zur Miete wohnt.
Die Bundesregierung hat die gesellschaftliche Sprengkraft erkannt, die in der Wohnungsnot steckt. Am Mittwoch hat sie daher ein «Gesetz zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung» auf den Weg gebracht, das bereits im Herbst in Kraft treten soll. Es sieht vor, dass die Bauaufsichtsbehörden in Deutschland künftig Bauvorhaben auch ohne Bebauungsplan zulassen können, wenn die zuständige Gemeinde dem zustimmt. Das soll die Bauvorhaben weniger bürokratisch machen und beschleunigen. Derzeit dauert ein Bebauungsplanverfahren in einer deutschen Grossstadt nach Angaben von Bundesbauministerin Verena Hubertz im Schnitt fünf Jahre.
Darüber hinaus gibt das Gesetz den Gemeinden die Möglichkeit, von bestehenden Bebauungsplänen abzuweichen, wenn dadurch zusätzlicher Wohnraum entsteht, sei es durch Neubau, Nachverdichtung, Aufstockung oder eine veränderte Nutzung bestehender Gebäude. Der Bau-Turbo werde «massive» Investitionen für den Bau neuer Wohnungen auslösen, sagte Bundesfinanzminister Lars Klingbeil am Mittwoch zuversichtlich.
Zweifel an Wirksamkeit des Bau-TurbosOb es tatsächlich zu dem erhofften Boom am Bau kommt, ist jedoch fraglich. Denn die Möglichkeit der Gemeinden, von bestehenden Bebauungsplänen abzuweichen, ist bis Ende 2030 befristet. Das sei zu kurz, kritisiert der Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW). Der Mangel an Wohnraum sei bis Ende 2030 «definitiv nicht behoben». Es bestehe das Risiko, dass der Bau-Turbo ins Leere laufe. Die Experten des Verbands fordern daher, die Möglichkeit der Gemeinden, von Bebauungsplänen abzuweichen, zu entfristen oder zumindest bis 2035 zu verlängern.
Hinzu kommt, dass nicht klar ist, ob die Gemeinden von der erhöhten Flexibilität, die ihnen der Bau-Turbo verschafft, tatsächlich Gebrauch machen. Für die Bauträger und -unternehmen besteht kein Rechtsanspruch auf eine günstige Entscheidung der Kommunen. Diese könnten ohne Begründung oder aus «rein politischen Erwägungen» Bauvorhaben ihre Zustimmung verweigern, fürchtet der BFW. Es sei daher «sehr wahrscheinlich, dass die Kommunen weniger als erhofft von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus abweichen werden», fürchtet der Immobilienverband.
Darüber hinaus können die Gemeinden den Bauunternehmen städtebauliche Auflagen erteilen, wenn sie zu deren Gunsten vom Bebauungsplan abweichen. Diese könnten das Bauen am Ende erschweren, statt es zu erleichtern. Der BFW fordert daher, die Gemeinden sollten verpflichtet werden, ihre Zustimmung zu Bauvorhaben ohne Auflagen oder Bedingungen zu erteilen, wenn dadurch neuer Wohnraum entstehe. Sonst werde das Ziel des Bau-Turbos, den Bau von bezahlbarem Wohnraum zu vereinfachen, «nur teilweise erreicht».
Mietpreisbremse verschärft die WohnungsknappheitAn den Baukosten selbst, die in den vergangenen Jahren durch die Decke gegangen sind, dürfte der Bau-Turbo ohnehin nur wenig ändern. Um sie zu senken, müssten die 16 Landesbauordnungen harmonisiert, die Anforderungen an die Gebäude reduziert und das Vergaberecht flexibilisiert werden, sagt Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie. Die Baukosten seien «der eigentliche Hebel für mehr Bezahlbarkeit am Wohnungsmarkt», so Müller.
Das grösste Hemmnis für den Bau neuer Wohnungen und somit für moderatere Mieten aber ist die Mietpreisbremse. Die Bundesregierung hat sie vor wenigen Wochen bis Ende 2029 verlängert. Die Regulierung schreibt vor, dass in Regionen mit angespannten Wohnungsmärkten die Miete bei Neuvermietungen höchstens 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen darf. Damit deckelt die Preisbremse die Renditen der Investoren und mindert so deren Bereitschaft, neuen Wohnraum zu schaffen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Mietpreisbremse bis jetzt nur für Altbauten gilt. Auf die Miete für umfassend modernisierte Wohnungen sowie für Neubauten, die nach 2014 erstmals vermietet wurden, findet sie keine Anwendung. Das Problem dabei: Die Politik kann das Schwellen-Datum, ab dem Gebäude der Mietpreisbremse unterworfen werden, jederzeit ändern. So schlug Justizministerin Stefanie Hubig vor wenigen Wochen vor, die Mietpreisbremse auf alle Wohngebäude bis zum Baujahr 2019 auszuweiten. Hätte sie sich mit ihrem Vorschlag durchgesetzt, wäre es «ein noch verheerenderes Signal für Investitionen in den Wohnungsbau gewesen», sagt Axel Gedaschko, Präsident des GdW.
Private Kapitalanleger verabschieden sich vom MarktSchon die Diskussion, die Hubig mit ihrem Vorschlag losgetreten hat, dürfte Investoren weiter verschrecken. «Private Kapitalanleger verabschieden sich schon seit längerem wegen der Mietpreisbremse aus dem Markt», sagt Ludwig Dorffmeister, Bauexperte des Münchner Ifo-Instituts. Die Preisregulierung konterkariere den Versuch der Regierung, mit dem Bau-Turbo mehr Wohnraum zu schaffen. «Die Mietpreisbremse verschärft die Wohnungsknappheit, die der Bau-Turbo beseitigen soll», sagt Dorffmeister.
Mehr noch: Die Mietpreisbremse spaltet die Gesellschaft. Während langjährige Bewohner einer durch die Mietpreisbremse geschützten Wohnung häufig dort wohnen bleiben, selbst wenn die Wohnung nicht mehr zu ihren familiären Verhältnissen passt, balgen sich die Wohnungssuchenden um die knappen und teuren Neubauwohnungen. Das treibt deren Preise in astronomische Höhen. Die Wohnungsnot sei nicht die Folge von Marktversagen, sondern von «krassem Politikversagen», urteilt der Ifo-Ökonom Dorffmeister.
Für die Wohnungssuchenden ist das nur ein schwacher Trost. Sie dürften in Berlin, München und Hamburg vorerst weiter auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen sein – trotz Bau-Turbo.
nzz.ch