Löwe Acerbi und die Karriere, die es fast nicht gegeben hätte

Mit 37 Jahren hat ein Fußballer für gewöhnlich schon viel in seiner Karriere erlebt. Francesco Acerbi von Champions-League-Finalist Inter Mailand allerdings noch etwas mehr.
Tattoos prägen seinen Körper, persönliche Schicksalschläge seine Seele: Francesco Acerbi. IMAGO/Insidefoto
Der Körper ist übersät mit Tätowierungen, das ist kaum zu übersehen. Erst recht nicht, wenn sich Francesco Acerbi nach einem absolvierten Spiel das Trikot auszieht, beim Aufwärmen vorab die Stutzen noch nicht ganz hochzieht oder eben beim Torjubel vor Euphorie durchdreht.
So geschehen im fantastischen Champions-League-Halbfinalrückspiel gegen den FC Barcelona, als der Routinier beim Stand von 2:3 von Inter-Trainer Simone Inzaghi als Aushilfsangreifer nach vorn beordert worden war. Und dann nach sauberer Vorarbeit von Denzel Dumfries in Stürmermanier wie aus dem Buche sauber den Körper reingestellt und via Direktabnahme unter die Latte vollendet hatte.

Der VfL Wolfsburg scheitert erneut deutlich an der Qualifikation für das internationale Geschäft. Welche Maßnahmen werden jetzt getroffen und was muss sich im Klub ändern? Außerdem: Vor dem Champions-League-Finale entschlüsselt kicker-Experte Niklas Baumgart das Erfolgsrezept von PSG.
Erst durch dieses Tor retteten sich die Mailänder in die Verlängerung, in der sie dann mit einem furiosen 4:3 ihre Teilnahme am Champions-League-Finale an diesem Samstagabend (21 Uhr, LIVE! bei kicker) in der Münchner Allianz-Arena gegen Paris Saint-Germain klarmachten. Es war übrigens Acerbis erstes Tor auf internationaler Bühne. Ein Premierentor in der Champions League mit 37 Jahren? Das hatte es bis dato noch überhaupt nicht gegeben.
Und dadurch waren sie beim Jubel mit Trikotausziehen, Sturmlauf gen Fans und nachher abgeholter Gelber Karte eben erst wieder in voller Pracht zu sehen - die ganzen Tattoos. Sprüche sind auf seinem Körper verewigt ebenso wie ein Fußball, zwei große Flügel samt Krone auf dem Rücken sowie etliche andere Motive, darunter vor allem das des Löwen. "Der König der Tiere" symbolisiert Stärke, Durchhaltevermögen und das Kämpfen gegen Widerstände.
Acerbi trägt sie mit Stolz und aus gutem Grund, hat er doch auch abseits des Fußballplatzes seinen bislang größten Kampf gewonnen. Den Kampf gegen den Krebs.
2013 war das, als Acerbi gleich zweimal an Hodenkrebs erkrankt und erst im September 2014 in die Mannschaft der US Sassuolo Cacio - seinem damaligen Klub - zurückgekehrt war. Eine zunächst verhängte Dopingsperre, weil er während der Krebstherapie ein Hormon verabreicht bekommen und dieses nicht gemeldet hatte, war in diesem Zeitraum wieder aufgehoben worden.
Zehn Jahre nach der Erkrankung gab der zweikampf- und kopfballstarke Verteidiger dann ein ungewohnt offenes Interview in der Gazzetta dello Sport und legte dabei so ziemlich alle durchlebten Gefühlsstationen, Gemütszustände und Lebenseinstellungen - auch an sein Berufsleben als Profifußballer - offen. So sagte Acerbi damals unter anderem: "Das Leben wirft dich immer vor eine Herausforderung." Der Krebs und mehr war seine.
Es war, als hätte ich vergessen, wie man spielt und warum ich überhaupt spiele.
Schließlich war 2012 auch noch sein Vater und Förderer verstorben, für den er einst überhaupt erst Richtung Profitum gestrebt hatte. Als er mit 23 Jahren (für Chievo Verona) erstmals in der Serie A spielte, tat er das "für Papa, nicht für mich", wie er sich einmal erinnerte. Mit seinem Vater Roberto, der bis zu seinem Tod und chronischem Herzleiden sieben Schlaganfälle überlebt hatte, pflegte er laut eigener Aussage keine einfache Beziehung.
Viel Härte gehörte zur Tagesordnung: "Wir hatten eine Liebes- und Hassbeziehung. Er hat mich ständig herausgefordert. 2011, nachdem ich bei Chievo unterschrieben hatte, winkte ich mit dem Vertrag vor seinem Gesicht."
Später folgte etwa die Station AC Mailand, von der er in jungen Jahren schon Fan und zugleich "Teil der Fossa dei Leoni, der Mailänder Ultragruppe", war, der "Höhle der Löwen". Seine ersten Versuche in der Modestadt waren sportlich jedoch nicht von Erfolg gekrönt, ebenso wie später beim CFC Genua. Erst eine Leihe zurück zu Chievo brachte Schwung, ehe er über die erfolgreichen Stationen Sassuolo Calcio (2013 bis 2018), Lazio Rom (2018 bis 2022) und Inter Mailand (seit 2022) durchstartete.
"Glauben Sie mir, ich trank alles"All das war aber nur möglich, weil er die großen Hürden - Tumor und Depressionen - in den damals schwierigen Jahren überstanden hatte. Kein einfaches Unterfangen, wie er einmal im Gespräch mit La Repubblica zugab: "Nach dem Tod meines Vaters, als ich für Milan spielte, war ich am Tiefpunkt angekommen. Ich fühlte mich leer, bedeutungslos. Ich habe seine Herausforderungen vermisst. Ich trug die Nummer 13 von Alessandro Nesta, aber ich habe eher gefeiert als trainiert."

Kein einfacher Gegenspieler: Francesco Acerbi (hier gegen ManCity-Garant Erling Haaland). IMAGO/Shutterstock
Arrogant aufgetreten sei er zudem, andere seien nie gut genug gewesen. "Von da an ging alles bergab. Ich habe ernsthaft überlegt, mit dem Fußball aufzuhören. Es war, als hätte ich vergessen, wie man spielt und warum ich überhaupt spiele. Ich fing an zu trinken - und glauben Sie mir, ich trank alles. Manchmal aß ich gar nichts, und ich schlief auch nicht." Kurioserweise war zu dieser Zeit aber genau die Diagnose Hodenkrebs irgendwie seine Rettung.
"Es mag paradox erscheinen, aber der Krebs hat mich gerettet. Ohne ihn hätte ich meine Karriere wohl mit 28 beendet, in der Serie B für Cittadella. Doch plötzlich musste ich gegen etwas Neues ankämpfen, eine Grenze überwinden. Es war, als könnte ich mein Leben noch einmal ganz von vorne beginnen und die Welt mit vergessener Sichtweise sehen. Plötzlich dachte ich an all die Sorgen, die ich meinen Eltern bereitet hatte, an all die verpassten Gelegenheiten und die durchzechten Nächte."
EM-Sieger - und nun zurück im Nationalteam
Hat 2021 im Londoner Wembley Stadium die Europameisterschaft gewonnen: Francesco Acerbi. imago images/Laci Perenyi
Das tat er - und inzwischen stehen stolze 405 Serie-A-Einsätze (23 Tore) für den Anfang 2024 im Zuge eines großen Rassismus-Vorwurfs gegen Gegenspieler Juan Jesus freigesprochenen Acerbi zu Buche, darüber hinaus neben einer Meisterschaft mit Inter Mailand auch 36 Spiele in der Königsklasse.
Am Samstag folgt gegen PSG Match Numero 37 - ganz passend zu seinem Alter. Und auf 34 Länderspiele für die Squadra Azzurra bringt es der Stürmerschreck auch noch. Mit dieser krönte sich der Innenverteidiger bei der wegen Corona verschobenen EM 2020 am 11. Juli 2021 gegen England zum Champion (3:2 im Elfmeterschießen unter Coach Roberto Mancini).
Nach einer zwischenzeitlichen Abstinenz (seit Oktober 2023 ohne Azzurri-Einsatz) wurde Acerbi von Nationaltrainer Luciano Spalletti wieder nominiert. Im hohem Alter darf er sich in der bald startenden WM-Qualifikation gegen Norwegen beweisen - wohl wieder gegen Erling Haaland, den der Abwehrrecke erst im CL-Finale 2023 (0:1 gegen Manchester City) und auch schon in dieser Saison in der Ligaphase (0:0) kaltstellte.
Kurzum: Der Löwe durchstreift auch im hohen Alter von 37 Jahren noch sein Revier, das er erst mit vielen zu überbrückenden Hürden erobert hat.
kicker