Lance Armstrong, Jan Ullrich und Mario Cipollini fahren zusammen Velo: Stelldichein der Bösewichte


Bilder Imago; Bearbeitung NZZaS
Sie haben kollektiv mehr Fehltritte auf dem Gewissen als manche Gefängnis-Sportgruppe. Aber demnächst werden sie auf einer 30-Kilometer-Schleife durch den Schwarzwald rollen, als wäre nichts gewesen. Lance Armstrong, Bradley Wiggins, Mario Cipollini, Andreas Klöden, Udo Bölts und weitere ehemalige Stars werden am 18. Mai beim «Jan Ullrich Cycling Festival» in Bad Dürrheim mit Hobby-Gümmelern der heimeligen Illusion frönen, die unbeschwerten 1990er Jahre seien zurück.
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Auf die Frage, wie das alles möglich sei, erzählt Ullrich eine rührende Geschichte. Vor zwei Jahren fanden die Deutschen Strassen-Radmeisterschaften in der Schwarzwald-Gemeinde statt. Und er, der damals noch nicht in Interviews selbstkritisch seine Drogenexzesse reflektiert hatte, wagte sich unter die Zuschauer.
Zu Recht sorgte sich der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger über Ablehnung, die letzten verstörenden Eindrücke waren noch frisch. Videos, wie er zugedröhnt durch seine Finca auf Mallorca wankte. Meldungen, er habe eine Escortdame gewürgt, wofür er einen Strafbefehl erhalten habe. Vom jahrelangen Doping ganz zu schweigen.
«Ich habe mich wieder in die Öffentlichkeit getraut», sagt der 51-Jährige über den Tag in Bad Dürrheim, immer noch stolz. Und dann passierte Herzerwärmendes: Die Offiziellen wiesen ihn nicht ab, sondern empfingen ihn mit offenen Armen. «Ich habe Freundschaft geschlossen mit Bürgermeister Jonathan», so Ullrich. Er meint den Ortsvorsteher Jonathan Berggötz.
Ullrich erkannte, dass die 13 000-Einwohner-Stadt willens war, ein Refugium gefallener Velohelden zu sein. Also aktivierte er sein Telefonbuch, lud ehemalige Weggefährten und Widersacher ein – und diese sagten reihenweise zu.
Bürgermeister Berggötz kann sein Glück kaum fassen. «Ich bin beeindruckt, welche Legenden zu uns kommen», sagt er. «Mal sehen, wie wir das mit unserem Goldenen Buch machen. Es wird ein Volksfest.» Die Veloausfahrt über maximal vier Runden wird umrahmt von Live-Konzerten, Party mit DJ, Weisswurst-Frühstück, BMX-Show. So etwas hat Bad Dürrheim noch nicht erlebt.
Cipollini wurde wegen Körperverletzungen verurteiltDer Italiener Cipollini, das ist absehbar, wird wieder die Massen elektrisieren. Niemand, nicht einmal Armstrong, beherrschte das Spiel mit der Öffentlichkeit besser als er, der 42 Etappen am Giro d’Italia gewann, Mailand–Sanremo und die Weltmeisterschaften. Einmal erschien Cipollini an der Tour de France anlässlich seines Geburtstags als Cäsar, er trug eine Toga und goldene Lorbeerblätter auf dem Kopf. Ein anderes Mal sagte er: «Wenn ich kein Radprofi wäre, wäre ich Pornostar.»
Im Juni 2022 wurde der heute 58-Jährige in erster Instanz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Ex-Frau Sabrina Landucci hatte ihn wegen Körperverletzungen, Misshandlungen und Drohungen angezeigt. Sie berichtete von Übergriffen im Privaten und bei der Arbeit, teilweise habe sie im Spital behandelt werden müssen. Landuccis Mutter sagte: «Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er Sabrina am Nacken gepackt und sie dann bewaffnet verfolgt hat.» In einem anderen Prozess musste sich Cipollini gegen den Vorwurf wehren, er habe auch seine Schwester geschlagen.
Es gibt plausible Theorien, warum prominente Velofahrer nach ihrer Karriere häufig am Leben scheitern. Der Radsport verlangt eine besonders rigorose Hingabe, ungezählte Stunden des Leidens im Sattel, Selbstbeherrschung beim Essen, phasenweise soziale Isolation. Über den Moment, wenn alles vorbei ist, sagte der Ex-Profi Allan Peiper dem Autor Richard Moore: «Plötzlich steht man vor dem Spiegel, schaut sich an und muss mit der Person klarkommen, die man in der neuen Welt ist.» Die meisten von ihnen, stellte auch der grosse Eddy Merckx einmal fest, suchten lebenslang vergeblich nach etwas, das sie wieder 24 Stunden am Tag absorbiere.
Marco Pantani starb mit 34 in einem Hotelzimmer, José Maria Jiménez mit 32 in einer psychiatrischen Klinik. Thierry Claveyrolat erschoss sich mit 40, Frank Vandenbroucke starb mit 34 nach mehreren Suizidversuchen in Senegal. Die Tode in schrecklicher Einsamkeit, vor allem jener Pantanis, wühlten ihre ehemaligen Rivalen auf, liessen sie zusammenrücken. Cipollini, der sich stets als unempathischer Macho inszenierte, sprach von einer «Tragödie enormer Proportionen für jeden im Radsport»: «Mir fehlen die Worte.» Und Ullrich schrieb in ein Kondolenzbuch: «Lieber Marco, ich vermisse dich.»
Die Helden von einst, das ist die tiefere Wahrheit hinter dem fröhlichen Velofest von Bad Dürrheim, bilden heute eine Schicksalsgemeinschaft. Die Erkenntnis, Dinge durchgemacht zu haben, die Aussenstehende kaum erfassen können, hat sie ebenso zusammengeschweisst wie die Ächtung, welche sie teilweise nach Doping-Enthüllungen erlebten.
Letzteres gilt vor allem für Ullrich und Armstrong. Der Amerikaner, der im Laufe seiner Karriere andere Fahrer mobbte, Funktionäre korrumpierte und Journalisten anschrie, wurde zu einem der treuesten Unterstützer des Deutschen, als dieser am Boden lag: Vom Saulus zum Paulus mutierend, flog Armstrong seinem Freund hinterher. Besuchte ihn in einer Entzugsklinik in Deutschland und nach einem weiteren Absturz in Mexiko. Redete dem Abgestürzten ins Gewissen: «Ich gehe jetzt zu meinen Kindern zurück, und du gehst zu deinen Kindern zurück.»
Die Bande der Ex-Sportler, die sich einst an der Tour de France keinen Millimeter schenken mochten, halten heute fester als manche Liebesbeziehung. Nicht nur Cipollini, sondern auch Ullrich, Armstrong und Bradley Wiggins haben gescheiterte Ehen hinter sich.
Wiggins ist noch relativ neu im Klub, er ist jünger als die anderen. Als Armstrong 2012 sein Doping gestand, gewann er die Tour de France. Seinerzeit sagte der Brite über den Amerikaner: «Er verdient alles, was ihm nun widerfährt. Ich fühle überhaupt keine Sympathien für ihn.»
Nach dem Karriereende geriet Wiggins selbst in einen Abwärtsstrudel. Mehrere seiner Firmen mussten Insolvenz anmelden, Gläubiger stellten Forderungen in Millionenhöhe. Der Anwalt des ehemaligen Profis sagte: «Er hat alles verloren, absolut alles – seine Häuser, seine Ersparnisse und seine Investitionen.» Reisserisch erklärte die britische Boulevardpresse Wiggins vorübergehend für obdachlos.
Und wieder tauchte Armstrong auf. Mehrfach lud er den Mann, der ihn so hart kritisiert hatte, in seinen erfolgreichen Podcast «The Move» ein. Dort umschmeichelten sich Armstrong und Wiggins. Als wäre nichts gewesen.
Armstrong ist trotz seiner Sperre dabeiNicht alle wollen verdrängen und vergessen: Der Radsport-Weltverband hat es Armstrong auf Lebenszeit verboten, an Radrennen teilzunehmen. Die Veranstalter in Bad Dürrheim sehen darin kein Problem. Es handle sich um kein offizielles Rennen, sondern nur um einen Social Ride, sagt der Organisator Rik Sauser. Selbstverständlich dürfe Armstrong dabei sein.
Wobei die Aussage nicht ganz korrekt ist: Auf zwei Strecken-Segmenten werden die Zeiten gestoppt. Vielleicht werden sich die einstigen Rivalen dort wieder duellieren, mit Ausnahme Ullrichs, der sich bei einem Trainingsunfall das Schlüsselbein gebrochen hat. Die 1990er sind zurück.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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