INTERVIEW - «Sobald die Gedanken abschweifen, wird es gefährlich», sagt Europameisterin Angelica Moser über den Stabhochsprung

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INTERVIEW - «Sobald die Gedanken abschweifen, wird es gefährlich», sagt Europameisterin Angelica Moser über den Stabhochsprung

INTERVIEW - «Sobald die Gedanken abschweifen, wird es gefährlich», sagt Europameisterin Angelica Moser über den Stabhochsprung
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Angelica Moser, wie kommt man eigentlich auf die Idee, sich mit einer Stange in die Luft zu katapultieren?

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Die Faszination ist, dass es ein wenig verrückt ist. Es ist nicht 08/15-Leichtathletik, nur geradeaus rennen oder im Kreis. Wir haben auch das Akrobatische, Turnerische dabei, das macht diese Disziplin speziell. Ich kam vom Turnen, also war ich prädestiniert für Stabhochsprung.

Wann hatten Sie das erste Mal das Gefühl, dass Sie fliegen?

Am Anfang schafft man es gerade mal auf die Matte; man macht eine Flanke an einem Stab, der sich nicht einmal biegt. Eine leichte Ahnung vom Fliegen kommt zum ersten Mal, wenn sich der Stab zu biegen anfängt. Man merkt: Der Stab gibt etwas zurück, man wird ein wenig katapultiert. Das ist für mich heute noch der Moment, der cool ist: wenn sich der Stab streckt und mir Energie zurückgibt.

Sie waren zuerst Kunstturnerin: Welches Fluggefühl ist schöner – das in 4 Meter 80 Höhe über der Latte oder das mit Salto und Schrauben durch die Luft?

Ich finde beides cool, darum liebe ich beide Sportarten. Es ist ein nicht alltägliches Gefühl, in der Luft zu sein und die Orientierung zu finden.

Kann man den Flug beim Überqueren der Latte überhaupt geniessen?

Wenn du drüberkommst, ja. Wir sehen, ob die Latte oben geblieben ist oder nicht. Und jubeln deshalb oft bereits in der Luft. Das ist schon cool.

Hatten Sie schon einmal den perfekten Sprung? Wie fühlt sich der an?

Nein, nein! Das ist illusorisch, man denkt, dass man irgendwann den perfekten Sprung schafft. Aber auch bei meinem bisher besten Versuch gab es noch viele Sachen, die etwas besser sein könnten. Diese kleinen Schräubchen, an denen man drehen kann, gehören zur Faszination dieser Disziplin.

Angelica Moser begann ihre Sportkarriere als Turnerin, wechselte aber bald zum Stabhochsprung und gewann an ihrem ersten internationalen Wettkampf mit 16 Jahren gleich Gold an den Olympischen Jugendspielen. Seither hat die heute 27-Jährige acht internationale Titel errungen, zuletzt wurde sie 2024 Europameisterin. Mit 4,88 Metern hält sie auch den Landesrekord.

Keystone

Angelica Moser begann ihre Sportkarriere als Turnerin, wechselte aber bald zum Stabhochsprung und gewann an ihrem ersten internationalen Wettkampf mit 16 Jahren gleich Gold an den Olympischen Jugendspielen. Seither hat die heute 27-Jährige acht internationale Titel errungen, zuletzt wurde sie 2024 Europameisterin. Mit 4,88 Metern hält sie auch den Landesrekord.

Was fehlt Ihnen noch, um 5 Meter hoch zu springen?

An allen Schräubchen noch ein wenig. Angefangen beim Speed im Anlauf, dann beim Einstich und beim Absprung – ich muss die Energie etwas besser mitnehmen und in den Stab transferieren. Stabhochsprung ist sehr nahe an der Physik. Es geht darum, die Energie ohne Verlust an den Stab zu übergeben und sie perfekt wieder zurückzubekommen.

Wie sehr ist diese magische Grenze von 5 Metern eine im Kopf?

Fünf Meter – das ist schon ein Traum. Vier Frauen haben das bisher geschafft, das ist ein sehr, sehr exklusiver Kreis. Sollte ich jemals dazugehören, würde mir das viel bedeuten. Aber ich denke Schritt für Schritt und habe nicht immer dieses Ziel im Kopf.

Wie hoch springen Sie im Training?

Weniger hoch als im Wettkampf. Ich benutze nie so harte Stäbe wie im Wettkampf, weil ich dort mit dem Adrenalin etwas schneller anlaufe. Ich riskiere im Training auch nicht gleich viel.

Wie viele Sprünge machen Sie in einem Training? Wie oft am Tag kann man überhaupt springen?

An einem Tag?! Normalerweise springen wir nur zweimal pro Woche, in gewissen Phasen dreimal. Das ist mental sehr anstrengend, denn ich kann keinen einzigen Sprung machen, ohne hundert Prozent zu geben. Die Disziplin ist auch nicht ungefährlich, also muss ich mit dem Kopf voll bei der Sache sein. Sobald die Gedanken abschweifen, wird es gefährlich.

Wie gross ist der Anteil Sprünge im Training, und was machen Sie sonst noch?

Meistens absolviere ich neun bis zehn Trainingseinheiten, davon sind zwei Stabhochsprung. Was wir häufig machen: mit dem Stab rennen oder sehr spezifische Übungen ausführen, ohne zu springen. Hinzu kommen Sprint- und Krafttrainings. Und in der Saisonvorbereitung widme ich ein Training pro Woche dem Turnen.

Was denken Sie, wenn Sie Armand Duplantis fliegen sehen, dessen Weltrekord bei 6,29 Metern liegt?

Es sieht so einfach aus! Er ist so schnell und hat die Technik, die perfekt zu ihm passt. Manchmal gibt mir das dieses Gefühl: Warum mühe ich mich mit all den Details ab, wenn es bei ihm so easy ist? Es ist spannend, mir zu überlegen, was ich übernehmen könnte. Oder ihn mit einem anderen Athleten zu vergleichen, der vieles anders macht. Es gibt in unserem Sport nicht die eine Technik, die für alle funktioniert.

Angelica Moser hat bisher acht internationale Titel gewonnen – zuletzt 2024 EM-Gold.

Stört es Sie, wenn die Leute beim Anlauf in einem falschen Rhythmus klatschen?

Das muss man ausschalten können, denn man glaubt kaum, wie viele Leute nicht fähig sind, im Rhythmus zu klatschen. Meistens erhöhen sie die Frequenz sehr schnell – und das stimmt überhaupt nicht mit dem Rhythmus überein, in dem wir rennen sollten. Man muss versuchen, diesen Lärm abzukoppeln von dem, was mit den Beinen passiert. Sonst kommt es gar nicht gut.

Aber Sie fordern doch die Leute zum Klatschen auf?

Wir versuchen, den Rhythmus vorzugeben, aber voilà . . . Es ist sicher cool, es unterstützt uns. Man muss es halt vom Anlauf trennen. Das geht relativ gut.

Was denken Sie während eines Sprungs?

Vor allem an den Sprung selbst. Ich gehe die wichtigsten Punkte durch, die ich «Qs» nenne. An diese muss ich im Augenblick denken, sonst mache ich sie nicht richtig. Zum Beispiel, dass die ersten paar Schritte im Anlauf extrem druckvoll sind, dass ich am Schluss des Anlaufs die Frequenz erhöhe. Während des Sprungs geht alles so schnell, dass vielleicht noch Platz für einen Gedanken bleibt. Wenn mein Coach Adrian Rothenbühler mir Korrekturen gibt, sind das deshalb nur ein, zwei Dinge pro Sprung, mehr kann man gar nicht auf einmal umsetzen.

Ihnen ist einmal der Stab gebrochen, und Sie haben sich schwer verletzt. Wie gross war das Trauma danach?

Unterdessen ist es gut.

Und direkt danach?

Erstaunlicherweise war es gar nicht so schlimm. Es brauchte schon einige Überwindung, bis ich wieder mit hundert Prozent springen konnte. Aber es war weniger der Stabbruch, der mir Probleme machte. Es sind vor allem die Sprünge, bei denen ich selbst einen Fehler mache und deshalb runterfalle. Den Bruch des Stabes konnte ich irgendwie unter Berufsrisiko abbuchen. Wir wissen, dass es passieren kann. Und wir wissen: Die Wahrscheinlichkeit, dass es einen noch einmal so erwischt, ist sehr klein. Meistens geht das ohne Verletzung ab, man hat vielleicht ein paar blaue Flecken. Davor darf man keine Angst haben, weil man nichts dagegen tun kann.

Was machen Sie nach einem Sturz, um wieder Vertrauen zu finden?

Man muss überlegen: Was ist passiert? Und warum ist es passiert? Meistens nimmt man einen härteren Stab, mit dem man eigentlich nur genau das Gleiche machen müsste wie vorher, aber man will mehr geben, forciert etwas, verkrampft sich . . . Und schon passiert es. Danach kommt oft eine Phase, in der man im Training zwei-, dreimal unter der Latte durchrennt, statt abzuspringen. Wenn man einmal gesprungen ist, passt es in der Regel wieder.

Der Stabbruch hatte nichts mit einem Fehler von Ihnen zu tun, das war ein schwerer Unfall. Haben Sie ihn mit der Mentaltrainerin aufgearbeitet?

Mit ihr arbeite ich sehr bedarfsorientiert zusammen. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich etwas brauche, gehe ich auf sie zu. Nach dem Stabbruch bin ich ein Jahr lang mit 98 oder 99 Prozent des Vertrauens gesprungen, immer mit ganz leicht angezogener Handbremse. Das habe ich mit dem Mentaltraining wegbekommen – und mit dem Vertrauen, das durch gute Sprünge zurückkehrte.

Eine entscheidende Phase des Stabhochspringens ist, dass man mit vollem Tempo in einen harten Stab rennt. Wie viel Mut braucht es dafür?

Am Anfang biegt sich der Stab gar nicht, weil einem die Technik fehlt. Dann fängt er an, sich langsam zu biegen. Das ist ein schleichender Prozess, deshalb muss man sich gar nicht überwinden. Man hält den Stab etwas höher, später noch etwas höher, und irgendwann ist man bei der vollen Biegung. Aber Angst darf man nicht haben, wenn man diese Disziplin ausübt.

Wie wichtig ist die Sprungkraft? Braucht es die, wenn man vom Stab in die Höhe katapultiert wird?

Wir trainieren viel Sprungkraft, aber auch, um die Geschwindigkeit im Anlauf zu entwickeln. Am Schluss springt man schon ab, allerdings viel weniger stark als im Hoch- oder Weitsprung. Wir versuchen, die Geschwindigkeit mitzunehmen, müssen aber abspringen, um die Flugrichtung zu ändern.

Wie schwierig ist es, mit einem über vier Meter langen Stab in der Hand zu sprinten?

Für mich ist das unterdessen normal. Wenn ich ohne Stab sprinten muss, weiss ich nicht, was ich mit meinen Armen tun soll. Aber wenn man jemandem, der gut sprinten kann, einen Stab in die Hand drückt, wird es schwierig für ihn. Die Position ist ungewohnt, und wenn man den Stab absenkt, entstehen durch die Hebelwirkung recht grosse Kräfte. Mir fällt es relativ leicht, der Unterschied zwischen Sprint mit und ohne Stab ist bei mir klein.

«Mir fällt es relativ leicht, der Unterschied zwischen Sprint mit und ohne Stab ist bei mir klein», sagt Angelica Moser über das Laufen mit dem Stab in den Händen.

Wobei genau hilft Ihnen die Kunstturn-Vergangenheit?

Ab dem Moment, in dem ich den Boden verlasse. Die Bewegung, die dann am Stab passiert, ist sehr nahe an einer freien Felge im Turnen. Davon habe ich in meinem Leben sehr viele gemacht, und ich trainiere sie immer noch. Das Turnen hilft mir auch bei der Orientierung in der Luft, ich kann in jeder Situation extrem gut einschätzen, wo ich bin. Und: Wenn etwas schiefgeht, weiss ich, wie ich fallen muss.

Zu welchem Zeitpunkt wissen Sie, ob ein Sprung gut wird?

Ob er drübergeht, weiss man erst, wenn man über der Latte ist. Aber im Training heisst «gut» nicht immer, dass man drüberkommt. Es geht vielmehr darum, Dinge gut umzusetzen: die Energie an den Stab übergeben, eine Bewegung gut ausführen. Das spürt man relativ rasch. Bei mir sind die letzten paar Schritte im Anlauf entscheidend. Wenn ich beim Einstich und Absprung zu spät oder zu nah bin, gibt mir der Stab einen Schlag, und dann kann ich nicht mehr viel machen.

Kann man noch etwas korrigieren, wenn man in der Luft ist?

Gewisse Dinge, ja. Man kann etwas verzögern oder schneller vorwärtsmachen, man kann auf tieferen Höhen die Latte suchen. Aber sobald es höher geht, hat man wenig Spielraum. Es hängt viel davon ab, was man am Boden macht.

Ist der Zusammenhalt unter den Stabhochspringerinnen auch so gross, wie es bei den Männern den Anschein macht?

Ich glaube, die Jungs sind immer noch ein bisschen chilliger als die Frauen, aber wir haben es auch sehr gut. Wir verbringen so viel Zeit auf den Wettkampfplätzen, und an Meetings Anfang Saison reden wir miteinander. Es sind ja mehr oder weniger immer die gleichen Leute an den Wettkämpfen, und es passieren teilweise lustige Sachen, das schweisst uns zusammen. Deshalb sind wir lockerer drauf als zum Beispiel die Sprinter. Die kommen raus, rennen ihre 100 Meter und gehen wieder. Wir sind drei Stunden gemeinsam auf dem Platz. Klar will jede für sich das Optimum herausholen, aber das heisst ja nicht, dass man sich als Menschen nicht verstehen kann.

Die Sprinter kultivieren teilweise ihre Aggressivität. Es wäre wohl schwierig, das über drei Stunden durchzuziehen.

Da verliert man bloss Energie. Ich glaube, die Werfer, die Stabhochspringer und die Mehrkämpfer sind die chilligen Typen in der Leichtathletik.

Mitarbeit: Eva Breitenstein

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