Ferrari, Fritten, Frauenschwarm: Als Vorort-Klub Wattenscheid 09 die Bundesliga wundersam aufmischte

Leroys Vater Souleymane Sané zum Ortstermin in einer Bäckerei.
(Foto: imago images/Horstmüller)
Vor 35 Jahren sorgt ein Aufsteiger in der Bundesliga für Furore - und heimst die Sympathien der Fußballfans ein. Die Erfolge des Familienklubs SG Wattenscheid 09 stehen für eine Zeit, als der Fußball in Deutschland und seine Spieler so sonderbar nah, bodenständig und menschlich sind.
"Unbekümmert, erobert die Herzen der stolzesten Frauen!" Trainer Hannes Bongartz, den sie im Revier bis heute alle nur "Spargeltarzan" rufen, weil er als junger Spieler so ein dürrer Hecht war, schwärmte voller Stolz von seinem gerade einmal 22-jährigen Jungstar. Und tatsächlich: Thorsten Fink, Spitzname "Finki", präsentierte damals im ausgehenden Sommer 1990 gerne sein äußerst einnehmendes Lächeln auf den zahlreichen Fotos, die seinen Verein, den "Klub der Stunde", die SG Wattenscheid 09, in den Gazetten des Landes zeigten.
Ansonsten spielte Fink in seiner Freizeit gerne die eine oder andere Runde Tennis und aß am liebsten Nudeln. Damit unterschied er sich von der Mehrheit seiner Mitspieler, die als ihr Leibgericht Steak mit Fritten (und Salat) bei einer Umfrage notierten. Nur der robuste Abwehrrecke mit dem damals obligatorischen Schnäuzer, Hans-Werner Moser, hatte als Antwort "isst alles" angegeben. Er fiel allerdings auch mit seiner Musikauswahl ("Udo Jürgens") und seinem Traumauto ("Porsche 911") etwas aus der Reihe. Bei den anderen standen Phil Collins und ein Ferrari gerade hoch im Kurs.
Unverschämt erfolgreichIm Rückblick ist dieser kunterbunte Haufen von Spielern, der im Sommer vor 35 Jahren als Aufsteiger für mächtig Furore sorgte, ein Kleinod für Fußball-Nostalgiker. Uwe Neuhaus, Stefan Emmerling, Frank Hartmann, Uwe Tschiskale und Souleymane Sané - das sind Namen aus einer Zeit, als noch jedes Kind die Spieler aller achtzehn Bundesligisten im Schlaf herunterbeten konnte und sie bis heute nicht vergessen hat. Und es ist die Zeit, in der der Fußball häufig noch so sonderbar nah, bodenständig und menschlich war - und die "größte Sportzeitschrift Deutschlands" einen Trainer seine "tolle Truppe" mit Hobbys, Spitznamen und griffigen Merksätzen ("Klein und giftig - der Nobby Stiles der Bundesliga") vorstellen lassen konnte. Die SG Wattenscheid 09 Anfang der 90er-Jahre steht für ein letztes Zucken des "alten" Fußballs. Rau, einfach, aber auch wunderbar herzlich!
Und unverschämt erfolgreich waren die Männer aus der Lohrheide zudem auch noch. Denn Anfang September vor fünfunddreißig Jahren stand der Klub aus Bochum 6 (Wattenscheid war, sehr zum Unwillen vieler Bürger, im Zuge einer Gebietsreform 1975 eingemeindet worden) als Aufsteiger nach drei Partien auf dem dritten Tabellenplatz hinter Frankfurt und Kaiserslautern und hatte mit den 5:1-Punkten nicht nur einen Traumstart hingelegt, sondern als Neuling in der ersten Liga auch einen alten Rekord eingestellt. Verständlich also, dass der Klub mit dem "Wunder von Wattenscheid" ("Fußball Magazin") die Schlagzeilen der Sportzeitschriften dominierte.
Dass diese kleine Fußballsensation allerdings nicht dazu führte, dass man in Bochum-Wattenscheid auf irgendeine Art und Weise durchdrehte, zeigten die Berichte der Reporter, die neugierig geworden, einen Ausflug ins Ruhrgebiet wagten. Denn vor Ort am Lohrheide-Stadion verirrten sich auch in diesen ungewöhnlichen Erfolgszeiten höchstens eine Handvoll Kiebitze zum Training der Bundesliga-Mannschaft. Man war also weitgehend unter sich und genoss den sportlichen Triumph still und leise. Wenn nicht gerade ein Journalist die Ruhe störte oder ein Fan aus der Nachbarschaft sich fasziniert auf den Weg gemacht hatte: "Normalerweise gehe ich auf Schalke. Aber wat die hier machen, dat ist doch wat!"
Patriarch Klaus Steilmann als ProblemlöserEs war auch die Zeit, als dunkelhäutige Spieler noch "schwarze Perlen" (Ali Ibrahim) hießen und die Sportzeitschriften sich in ihren Schlagzeilen an Originalität zu übertreffen versuchten. So titelte damals der "Kicker" - "Wattenscheid feiert seinen Torjäger. Sammy ist erste Sahne" - und zeigte auf dem Cover den Vater Souleymane des heutigen Spielers von Galatasaray Istanbul, Leroy Sané, mit einer Sahnespritze in der Hand, wie er in einer Backstube einen Schokofußball geschickt veredelte. Zusammen mit seinem Trainer Hannes Bongartz ("Der schnellste Stürmer, den ich je gesehen habe … leider lacht er nie") war Sané zu einem Ortstermin zu einer lokalen Bäckerei aufgebrochen und hatte der Presse unvergessene Bilder aus einer anderen Epoche des kommerziellen Fußballs geliefert. Heute wäre dies so alles undenkbar!
Doch damals war es noch ein Gütesiegel, wenn Vereine von ihren Spielern als "familiär" bezeichnet wurden. Souleymane Sané, der wie sein Kollege Stephan Kuhn aus Nürnberg gekommen war, schwärmte von den Verhältnissen in Bochum 6: "Die Führung in Wattenscheid ist super. Hier kann man sich als Spieler wohlfühlen, weil die Leute für einen da sind." Allen voran stand damals ein Mann, der besonders unter der Eingemeindung von Wattenscheid gelitten hatte und bis zu seinem Tod lieber ein Auto mit einem Nummernschild aus Essen fuhr: Der erfolgreiche Textil-Unternehmer und Patriarch Klaus Steilmann.
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Der damals 61-jährige Steilmann hatte seinen großen Lebenstraum nach einigen erfolglosen Anläufen endlich verwirklicht. Ums Geld hatte sich in Wattenscheid ohnehin nie jemand Sorgen machen müssen, doch der größte Kleiderfabrikant Europas war für seine Angestellten (und damit gefühlt auch für alle Sportler, die in "seinem" Verein agierten) schon immer mehr gewesen. Trainer Bongartz drückte diese besondere Form der Fürsorge damals so aus: "Wer ein Problem hat, kann ihn Tag und Nacht erreichen."
Abstieg nach Saison 1993/94 - für immerMit seiner Menschlichkeit war Klaus Steilmann für seine Mitarbeiter so etwas wie der Uli Hoeneß des Ruhrgebiets. Der sportliche Erfolg seines Klubs kam zwar spät, aber im Grunde musste es einfach irgendwann zwangsläufig passieren. Zu viel Kraft, Energie und Engagement hatte Klaus Steilmann in seinen Lebenstraum gesteckt. Für einen Erfolgsmenschen wie ihn gab es am Ende nur die Realisierung des Ziels. Doch dass es ihm tatsächlich so viel Freude bereiten würde, mit seiner SG Wattenscheid 09 Erstliga-Fußball zu spielen, damit hätte der ambitionierte Unternehmer wohl selbst nicht gerechnet.
"Von Platz 8 bis 18 ist alles drin für uns. Aber normalerweise haben wir mit dem Abstieg nichts zu tun", hatte Hannes Bongartz nach einigen Wochen in der Bundesliga gesagt - und er sollte Recht behalten. Auf einem hervorragenden Platz 11 standen die Männer aus der Lohrheide am Ende in der Tabelle. Einen Rang hinter Borussia Dortmund und drei Plätze vor dem Rivalen aus der eigenen Stadt, dem VfL Bochum. Erst nach der Saison 1993/94 mussten die Wattenscheider die Bundesliga schließlich wieder - und für immer - verlassen.
Den unbekümmerten Frauenschwarm Thorsten Fink zog es damals erst nach Karlsruhe und anschließend zu den Bayern. Dort traf er dann auf einen anderen großen Patriarchen: Uli Hoeneß. Der hatte nach dem Aufstieg der SG Wattenscheid 09 gesagt, dass dies "das Schlimmste sei, was der Bundesliga passieren konnte". Das sahen vor 35 Jahren jedoch eine Menge Fußballfans ganz anders. Damals, als ein kleiner Klub aus Bochum 6 die Sympathien der Anhänger mit seiner wunderbar familiären Art im Sturm eroberte.
Quelle: ntv.de
n-tv.de