Borussia Mönchengladbach verwaltet seinen Mythos – der Glanz der Vergangenheit überstrahlt die Herausforderungen der Gegenwart


Von aussen ist auf den ersten Blick gar nicht genau zu erkennen, worum es sich bei dem Areal handelt. Um eine Konzernzentrale? Ein Hotel? Um das Leistungszentrum eines Fussballvereins? Das Quartier von Borussia Mönchengladbach im Norden der Stadt hat von allem etwas, und genau so ist es auch angelegt. Wer das Gelände abschreitet, der umrundet zugleich das Stadion, ein 54 000 Plätze fassendes Oval. Die Dimensionen sind schwierig zu ermessen, zumindest, wenn man davorsteht.
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«Wenn Sie sich mal umdrehen, sehen Sie es: Sie sitzen gerade vor dem Bild der Borussia als Ist-Zustand mit elf Trainingsplätzen, einer Akademie, einem Campushaus, einem Mehrzweckgebäude mit Hotel, Museum, Rehabilitationszentrum, Ärztehaus und einem Biergarten.» Das sagt Rainer Bonhof, während er auf ein Foto des Areals aus der Vogelperspektive deutet. Er ist der Präsident von Borussia Mönchengladbach, aber im Grunde ist Bonhof noch sehr viel mehr. Er gehört zu jenem Zirkel von Ehemaligen, deren Namen eng mit dem Fussballklub verbunden sind. Weltmeister, Europameister, Uefa-Cup-Sieger war Bonhof, vier Mal deutscher Meister.
Neben seiner offiziellen Funktion ist Bonhof mit seiner heiteren Knorrigkeit und seinem staubtrockenen Humor zugleich einer der wichtigsten Botschafter der Borussia. Was würde er einem Ausserirdischen erzählen über diesen Klub im äussersten Westen der Republik? «Man würde ihm erklären, dass das ein nahbarer Verein ist, der Geschichte geschrieben und viele tolle Leute auf den Fussballmarkt gebracht hat und bei dem viele tolle Menschen arbeiteten und arbeiten.» Allerdings, sagt Bonhof, hätte er auch nichts dagegen, wenn dieser Marsianer ein bisschen in den Verein investieren würde.
Treffender lässt sich das Spannungsfeld wohl kaum umreissen, in dem sich Borussia Mönchengladbach bewegt. Wer hier, ein paar Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt, eine Weile verbringt, der watet knietief durch bundesdeutsche Fussballgeschichte, der bekommt Anekdoten mit, aber eben auch die ganz realen Probleme eines Vereins, der zwar nicht FC Bayern heisst, mit den Münchnern aber eine grandiose Vergangenheit teilt. Vom «Mythos Borussia» spricht man hier mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Bayern vom nächsten Meistertitel.
Konservierte Erinnerung: Das ist ein Metier, das die Gladbacher meisterhaft beherrschen. Zur Verwaltung des Mythos haben sie ein Museum eingerichtet, direkt unter den Tribünen. Vor ein paar Wochen feierten sie dort mit einem grossen Festakt das 125-jährige Bestehen des Klubs. Geräumig ist das Museum, aber doch verwinkelt, gefüllt mit allerhand Artefakten, ohne dass es überfrachtet wäre. Exakt 299 Bälle (allerdings aus heutiger Produktion) stehen für jedes einzelne Tor, das der Stürmer Jupp Heynckes für die Borussia erzielt hat. Das eindrücklichste Ausstellungsstück ist die Stadionuhr, ein gelungener Entwurf des Industriedesigns aus einer Zeit, in der die Symbiose von Form und Funktion noch einen höheren Stellenwert hatte.
Einst zeigte die Uhr grosse Siege an im alten Stadion am Bökelberg, jener Spielstätte mit nur 34 000 Plätzen, die zum Ärger der Anwohner mitten in einem gutbürgerlichen Wohnviertel lag. Wer eintauchen will ins bewegte Bild, der kann die Tore, Titel und Triumphe durch kleine, in die Betonwand eingelassene Bullaugen nacherleben: Gladbacher Guckkastenglück, das zugleich wie eine Verheissung wirkt.
Ein Stück vom Pfosten jenes Tores, das am 3. April 1971 auf dem Bökelberg zusammenkrachte, ist ebenso zu besichtigen wie allerhand Pokale, darunter zwei Uefa-Cup-Trophäen. Doch dann, ganz unvermittelt, erscheint das bedeutendste Exponat, untergebracht in einem Zylinder aus Sicherheitsglas, scheinbar freischwebend auf einem gebogenen Stück Edelstahl: das Corpus Delicti des «Büchsenwurfs vom Bökelberg», eines ungelösten Kriminalfalls mit erheblichen Folgen.
Am 20. Oktober 1971 gewannen die Gladbacher im Europapokal der Landesmeister 7:1 gegen Inter Mailand. Doch das Resultat des Achtelfinal-Hinspiels wurde annulliert, weil der Stürmer Roberto Boninsegna wie von der Axt gefällt zu Boden sank, nachdem ihn eine leere Cola-Büchse getroffen hatte. Die Büchse ist mehr als nur ein Exponat. Sie ist im Grunde genommen eine Reliquie, vielleicht die bedeutendste überhaupt vom Niederrhein, und das in einer Gegend, in der man sehr gut weiss, was Heiligenverehrung bedeutet.
Aber auf eine gewisse Weise wirkt die Cola-Büchse im Museum auch tröstlich, weil so immerhin jener Abend in Erinnerung geblieben ist. Die Umstände machten das Spiel, das in keiner offiziellen Wertung auftaucht, zu einem ausserordentlichen Ereignis. Gladbach: Das war der Klub, der auf dem Weg zu grossen Triumphen nicht grandios scheiterte, sondern mit viel Grandezza havarierte. Das vielleicht beste Team des Kontinents, der verhinderte Sieger im Landesmeister-Cup. So weist das Scheitern von damals weit über ein blosses Fussballspiel hinaus. Es war mehr als ein profanes Ereignis – durch die Umstände, die es umgaben.
Die Umstände: Sie sind auch in der Gegenwart keineswegs einfach, das erlebt Roland Virkus, der Sportdirektor, tagtäglich. Am letzten Tag der Transferperiode hat er sich Zeit genommen für ein Gespräch; sein Telefon behält er stets im Blick. Virkus, ein quirliger Mann mit direkter Rhetorik, weiss sehr gut, was von ihm und seinem Stab verlangt wird. Solidität durch und durch. Und genau dafür steht auch das Mönchengladbach der Gegenwart: ein Klub mit gefestigten Strukturen, gewiss – aber eben auch ein Klub, der, zumindest gegenwärtig, prädestiniert dafür ist, das Mittelmass zu konsolidieren.
Bestenfalls vielleicht wieder einmal international mitzuspielen: Das ist das, was zurzeit vorstellbar ist, obwohl Gladbach genau das vor noch gar nicht langer Zeit tat, ehe die Covid-Pandemie über den Kontinent fegte. Man dürfe nicht vergessen, dass man aus einer Phase des Erfolgs komme, sagt Virkus, und in diesem Augenblick wird klar: Eine Champions-League-Teilnahme wird an diesem Ort zurzeit als etwas Aussergewöhnliches wahrgenommen.
Virkus kultiviert den nüchternem Blick auf die Möglichkeiten. Niemand musste ihm den Klub erklären, als er seinen Posten im Jahr 2022 antrat; Virkus ist gebürtiger Mönchengladbacher. Auf die Frage, was er von seinem Trainer, dem Schweizer Gerardo Seoane, erwarte, sagt er schlicht: «Dass er weiter eine Mannschaft entwickelt.»
Der Coach habe schon viel hinbekommen, neue Profis integriert. Spieler, die, so Virkus, so etwas wie «eine Mönchengladbach-DNA» haben. Er nennt Lukas Ullrich und Moritz Nicolas, vor allem aber Rocco Reitz, den er nie abgeben würde, so sehr sei der Name dieses Spielers – trotz dessen nur 23 Jahren – seit den Junioren mit der Borussia verbunden.
Natürlich könnte Virkus beklagen, dass die Gegenwart längst nicht so schillernd ist wie die Vergangenheit. Bloss: Welcher andere Klub mit Tradition, aber beschränkten Mitteln ist schon in der Lage, eine solche Geschichte derart opulent zu inszenieren wie die Gladbacher?
Werder Bremen, immerhin Sieger im Europacup der Pokalsieger, weiss nicht so recht, was es mit der erfolgreichen Ära unter Otto Rehhagel in den 1980er und 1990er Jahren anfangen soll. Borussia Dortmund ist so ambitioniert, dass man sich einen Rückgriff auf die eigene Geschichte, so reich sie auch sein mag, nicht gestatten würde. Bei den Gladbachern ist das anders, gerade das hebt sie heraus – und illustriert, in welch ebenso einzig- wie eigenartiger Lage sie sind.
Gerardo Seoane, der Coach, sieht sich jedenfalls am richtigen Ort. Da ist zum einen der starke Bezug des Klubs zur Schweiz, der einst von Lucien Favre begründet wurde, als er Gladbach trainierte; mit Nico Elvedi und Jonas Omlin sind immer noch zwei Schweizer Spieler im Kader. Die Bundesliga hat Seoane nach seinen Triumphen mit YB in Leverkusen kennengelernt, mit Mönchengladbach ist er nun in seine dritte Saison gestartet.
Zum anderen wegen der Bodenständigkeit, die ihm in den Sinn kommt, wenn er über den Klub redet: «Man ist bodenständig, aber man ist ambitioniert, man hat eine breite Brust. Ich komme ja aus Luzern, da ist es ähnlich: Ich erlebe die Leute dort und hier als bodenständig und demütig.» Mit seinem Trainerteam, sagt der Schweizer, fühle er sich am Niederrhein ausgesprochen wohl. Was der Trainer aber auch sagt, wenn er auf die Trophäensammlung blickt: «Ich finde, dass man das schon sehr ehren darf. Der Erfolg ist nicht weniger oder mehr wert, weil er vor vierzig Jahren oder vor zwanzig Jahren war.»
Die Mönchengladbacher Herrlichkeit liegt allerdings eher fünf als vier Jahrzehnte zurück. Und womöglich wäre das Gladbacher Milieu gar nicht so aussergewöhnlich, wenn sich die Erfolge seinerzeit nicht in einem ganz besonderen Klima ereignet hätten. Mit jener Equipe, die die «Fohlenelf» genannt wurde und die einen Fussball spielte, der keine defensiven Fesseln kannte. Mit dem Trainer Hennes Weisweiler, mit Spielern wie Bonhof, Heynckes, Berti Vogts – und selbstverständlich Günter Netzer, jenem Mann, der mit einer an Penetranz grenzenden Beharrlichkeit als der erste Pop-Star des deutschen Fussballs bezeichnet wird. Aber es stimmt ja. Und Mönchengladbach ohne Netzer? Unvorstellbar. Zu dominant war sein Einfluss, zu prägend war der Mittelfeldspieler.
Netzer war der erste Protagonist des damals noch gar nicht existenten deutschen Fussball-Feuilletons. In Karl Heinz Bohrer, einem Kulturkorrespondenten der «Frankfurter Allgemeinen», fand Netzer seinen Exegeten und Herold in einem. Und in jenem Masse, in dem die Bedeutung Bohrers wuchs (er galt als einer der bedeutendsten Intellektuellen der Bonner Republik), glänzte auch Netzer und mit ihm die Borussia ein wenig mehr.
Die berühmte Wendung, wonach Netzer «aus der Tiefe des Raumes kam» (tatsächlich hiess es: «der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstossende Netzer»), verdankt sich einer Beschreibung des Literaturkritikers und späteren «Merkur»-Herausgebers Bohrer. Sie prägte die Wahrnehmung der Mönchengladbacher über Jahrzehnte.
Bohrer verfasste damit einen der einflussreichsten Texte, die über den deutschen Fussball je geschrieben wurden. Und doch: «Aus der Tiefe des Raumes» klingt mittlerweile, da sich in Mönchengladbach Revival an Revival reiht, auch schon ein wenig antiquiert, ähnlich wie der gellende «Tor, Tor, Tor»-Schrei im Wochenschau-Stil des Reporters Herbert Zimmermann anlässlich des deutschen WM-Triumphs im Jahr 1954.
Tempi passati. Die Herausforderungen der Gegenwart sind ganz andere, das wissen die Verantwortlichen. Virkus, der sich selbst unumwunden als Fussballromantiker bezeichnet, nennt keine Platzierungen. Er skizziert die Strategie: «Die Frage ist: Schaffen wir es wieder, eigene Talente zumindest in die Nähe des Profibereichs zu bringen? Und wir würden uns wünschen, dass der ein oder andere dann auch durchgehen würde.» Rainer Bonhof sagt, die Borussia müsse schauen, dass sie ihre «Hausaufgaben mache», denn schliesslich gehe es darum, «dass wir die nächsten zwanzig, dreissig Jahre gut überstehen können».
Ein Auftrag, der nicht zuletzt an den Sportdirektor geht. Früher, sagt Roland Virkus, sei es einfacher gewesen, Spieler zu entdecken. Dank Datenanalysten funktioniere der Transfermarkt heute völlig anders: «Wir konnten noch ein paar Juwelchen finden, die andere nicht gefunden haben. Heutzutage findest du diese vielleicht nicht mehr, weil alles transparent ist. Du kannst über Daten entdecken, man kann weltweit fast alle relevanten Spiele schauen.» Das Netzwerk habe früher eine grössere Bedeutung gehabt, sagt Virkus.
Für den Manager ist das aber kein Grund, nostalgisch zu werden. Wenn es ideal laufe, sagt Virkus, dann habe die Borussia eine gute Mannschaft. Und schaut, als wolle er sagen: «Das ist doch was.»
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