Wieduwilts Woche: Hunger in Gaza vergoldet 200 Promi-Biografien

Die Menschen in Gaza brauchen Hilfe - aber von deutschen Promis in Form von Appellen?
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Vorbemerkung: Derzeit bahnt sich in Gaza nach Auffassung der IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) eine Hungersnot an - zu dieser Annahme kommt die IPC selten, in den letzten 15 Jahren vier Mal. Israels Regierung bestreitet, dass es in Gaza Hunger gebe oder sie Hunger als Waffe einsetze. Ob das stimmt? Ich weiß es nicht, deshalb überlasse ich diese Frage anderen. Hier geht es um eine moralische Anmaßung.
"Worte alleine retten keine Leben", ermahnen dieser Tage Gaza-Promis den Bundeskanzler. Dass Friedrich Merz Israel kritisiert habe, sei zwar gut, aber nun müsse mehr passieren: Waffenstopp! EU-Assoziierungsabkommen aussetzen! Waffenstillstand!
Es ist nicht der erste Aufruf dieser Art, einen ähnlichen hatte es im Juni gegeben, damals waren es Leute wie Axel Prahl, Luisa Neubauer und Fynn Kliemann, aber da hat wohl niemand zugehört.
Also: noch einmal. Warum auch nicht? Für "Prominente" gibt es wenig bessere Wege, die eigene Biografie gesellschaftlich zu vergolden. Man kann zwar einen Bestseller schreiben, als Schauspieler das Herz der Zuschauer erobern oder vielleicht einen Schokoriegel nach sich selbst benennen.
Aber da der Mensch wirklich nie zufrieden ist, schleicht sich bei manchen der leise Zweifel in die prominente Seele: Ist das nicht alles ein bisschen seicht? Reicht mir das wirklich, wenn das Ende meiner Tage näher kriecht und alsbald ein Nachruf zu schreiben wäre?
Politik: Ja, das wäre schon etwas, aber nach einem kurzen Blick in die Hauptstadtnachrichten stellt der Prominente, dessen Zuhause doch eigentlich die Glitzerwelt ist, fest: Das ist mühselig, langweilig und die Menschen hassen einen dafür.
Dann schon lieber einen offenen Brief! Hier winkt die instant gratification in Gestalt des eigenen, ernst dreinblickenden Gesichts nebst einer Textzeile, Prominente würden nun gegen hungernde Kinder sein. Tolle Sache! Der eigene Agent: begeistert.
Die Umkehrung deutscher StaatsräsonAber woher nehmen Joko Winterscheid, Heike Makatsch und all die anderen eigentlich die moralische Überlegenheit? Haben sie die Lage in Gaza aus knapp 3000 Kilometern Entfernung besonders gut im Blick, in Prenzlauer Berg, in einem Staat, dem noch nie jemand mit Auslöschung gedroht hat, in den noch kein einziges Raketchen gefallen ist?
Die Antwort gibt der Brief selbst, aber es ist ein bisschen versteckt. An Merz richten die Unterzeichner diesen Rat: "Sie brechen durch entschlossenes Handeln für die Zivilbevölkerung in Gaza nicht mit deutscher Staatsräson, sie wahren sie."
Hm? Ein Waffenstopp gegenüber Israel ist nun deutsche Staatsräson? Sagte Angela Merkel damals nicht, Israels Sicherheit wäre deutsche Staatsräson?
Frei von "German Guilt"Die deutsche Staatsräson begründet sich eigentlich aus dem Gedanken, dass der Staat Israel seine Existenz dem Judenhass im Allgemeinen und dem deutschen Holocaust im Besonderen "verdankt". Die Autoren kehren nun aber die historische Verantwortung durch eine Art Moral-Judo um zu einem Argument, das ihnen gestattet, dem Staat Israel Vorgaben zu machen.
Dabei steht die Logik schon deshalb auf dem Boden eitler Dummheit, weil sie ein Rangverhältnis der Verantwortlichkeit eröffnet. So gesehen wäre nämlich etwa Schweden weniger für die Einhaltung der Menschenrechte durch Israel verantwortlich als Deutschland - aufgrund der deutschen Staatsräson! Kommen Sie noch mit? Nein?
Macht nichts: Mit Logik ist die moralische Erhabenheit Deutschlands auch nicht zu erklären. Mit Egoismus schon. Durch nichts kann der schuldgebeugte Deutsche die Reinheit seiner Gedanken nämlich besser manifestieren, als wenn er damit ausgerechnet dem Opfervolk von dunnemals in die Speichen greift. Das deutsche Argument wiegt plötzlich schwerer als das der anderen und zugleich begleicht man alte Schulden (Holocaust).
Anders gesagt: Der Hunger in Gaza macht die Deutschen frei von "German Guilt".
Echte Menschlichkeit, unechte MenschlichkeitDas immerhin erklärt die schaumige Begeisterung, mit der auch hiesige Medien das tatsächliche Leid in Gaza ausschmücken, indem sie in dieser Woche Fotos vorerkrankter Kinder als Illustrationen von Hunger verkaufen. "Ja, aber hätte ja so sein können", schallt es da aus der Aktivistenszene. Noch hat das Internet keine Desinformation gesehen, unter die nicht dieser dumme Satz geknallt worden wäre.
Den Gipfel der Impertinenz erklimmen die Gaza-Promis womöglich bei diesem Satz: "Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo politisches Kalkül endet." Was ist denn unechte Menschlichkeit? Die wägende? Die eines Politikers? Ist Israel unecht menschlich - oder doch gleich unmenschlich?
Vielleicht hätte es dem Brief gutgetan, wenn seine Autoren die ohnehin schon von angemaßter Erhabenheit trotzdende Geste nicht auch noch durch sprachlichen Schwulst untermalt hätten. Zu Beginn mutmaßen sie selbstgerührt, dass der Kanzler nicht weiß, welcher Spezies die in Gaza leidenden Wesen angehören: "Dabei sind es Menschen. Mütter. Väter. Kinder. Kinder wie unsere. Kinder wie Ihre."
Kurzum: Joko und Co. weisen von der Promiwolke aus der dusseligen Politik den Weg, als wären sie der an die Decke der Sixtinischen Kapelle gemalte liebe Gott.
"Haben Sie den Mut dazu?"Aber das reicht ja noch nicht. Implizit versteigen die Autoren sich nämlich zur Annahme, dass Kritik an Israel - also doch wohl auch ihre eigene! - "Mut" abverlange. "Haben Sie den Mut dazu?", fragen sie Merz wörtlich. Ich bin nicht sicher, ob mir auf Anhieb irgendeine Tätigkeit einfällt, für die man weniger Mut benötigt, als für Israelkritik. Vorsichtig einen Schluck stilles Wasser zu trinken, vielleicht.
Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Dieser Brief ist nur unter einer Annahme sinnvoll: Dass Israel Zivilisten und Kinder tötet, weil es Lust dazu hat. Das ist die alte "Kindermörder Israel"-Saga, die als Ritualmordlegende seit über 1000 Jahren um den Globus kreist. Glauben die Unterzeichner das wirklich?
50 Geiseln sind in dschihadistischer Hand, schätzungsweise 20 noch am Leben. Hamas hat meines Wissens noch keinen einzigen offenen Brief aus der deutschen Promi-Szene erhalten, obwohl die Motivlage dieser Organisation klar ist. Hamas könnte mit einem Tweet den Krieg beenden: indem sie aufgibt und die Geiseln freilässt.
Aber Brief an Terroristen: Dazu bräuchte es wohl Mut.
Quelle: ntv.de
n-tv.de