Ukraine: Wie sich Europa von Trump emanzipieren will
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Am Sonntag um 18 Uhr, als in Deutschland die Wahllokale schlossen, wurde in Brüssel die Nachricht verbreitet: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union treffen sich am Donnerstag, dem 6. März, zu einem Sondergipfel. Auf der Agenda steht das Schicksal der Ukraine, nachdem US-Präsident Donald Trump als Bündnispartner auszufallen droht und den Schulterschluss mit dem Aggressor Wladimir Putin zu suchen scheint.
Der Zeitpunkt weckte den Verdacht, die EU habe die Nachricht bewusst zurückgehalten und möglicherweise dem deutschen Wahlvolk die Dramatik der Lage in der Ukraine verheimlichen wollen: Die europäischen Staaten werden gewaltige Summen an Geld aufwenden müssen, um die Ukraine und langfristig auch sich selbst gegen Russland zu verteidigen – und sie werden möglicherweise auch irgendwann Soldaten schicken müssen, um einen Waffenstillstand in der Ukraine zu sichern. Ratspräsident António Costa, der das Sondertreffen koordiniert, sah sich deshalb zu einer Klarstellung genötigt: Der Zeitpunkt habe nichts mit den deutschen Wahlen zu tun. Der Ratspräsident wollte vielmehr am Vorabend des 24. Februar, des dritten Jahrestags der russischen Invasion, ein Zeichen setzen: Europa steht zur Ukraine.
Scholz will Merz in die europäischen Gespräche einbindenDer mutmaßliche neue Bundeskanzler Friedrich Merz erweckte am Sonntagabend den Eindruck, die deutschen Wahlen bedeuteten tatsächlich eine Zeitenwende für Europa. Beim gemeinsamen TV-Auftritt kritisierte er den noch amtierenden Kanzler Olaf Scholz nicht nur wie üblich dafür, dass dieser die Ukraine nicht mit mehr und besseren Waffen beliefern ließ. Der CDU-Politiker ging noch einen Schritt weiter: Während Scholz davor warnte, Europas Sicherheit ohne die Hilfe der USA zu denken, will Merz Europa so schnell wie möglich unabhängig von den USA machen – für einen Christdemokraten, der als Transatlantiker sozialisiert worden ist, war das eine erstaunliche Ansage.
Bevor Merz die Führungsrolle in Europa übernehmen kann, muss er Hand in Hand mit Scholz arbeiten. An dem Sondergipfel nächste Woche wird natürlich der amtierende Kanzler teilnehmen. Er hat aber versprochen, Merz in die Gespräche einzubinden.
Die Staats- und Regierungschefs wollen sich darüber verständigen, wie sie notfalls ohne die USA die Ukraine am Leben erhalten wollen. Die EU müsse den großen Worten nun endlich große Taten folgen lassen, und zwar ganz schnell, heißt es unter EU-Diplomaten, die das Treffen vorbereiten. Andernfalls werde die EU von Donald Trump im Ringen um die Zukunft der Ukraine schlicht nicht ernst genommen.
Viktor Orbán spielt wieder einmal eine Sonderrolle in der EUEs wird vor allem darum gehen, möglichst schnell neue Waffen und Munition für die Ukraine zu beschaffen. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas will dafür bis zu 20 Milliarden mobilisieren, nicht aus gemeinsamen EU-Töpfen, sondern finanziert von den einzelnen Mitgliedstaaten. Kallas hat auch vorgeschlagen, nicht nur die Zinsen aus eingefrorenen russischen Vermögen für die Beschaffung von Waffen zu verwenden, sondern auch die Vermögen selbst. Aber dafür gibt es absehbar keine Mehrheit.
Debattieren werden die Staats- und Regierungschefs auch, welche Sicherheitsgarantien Europa der Ukraine im Falle eines Waffenstillstands geben kann. Vieles wird davon abhängen, ob sich US-Präsident Trump doch bereit erklärt, einer europäischen Schutztruppe Rückendeckung zu geben. Ohne den Schutzschirm der USA halten es die meisten europäischen Regierungen für ausgeschlossen, Soldaten zwischen die Fronten zu schicken. Um herauszufinden, was Trump wirklich will, ist der französische Präsident Emmanuel Macron am Sonntag nach Washington geflogen.
Eine Sonderrolle dürfte bei dem Treffen in Brüssel wieder einmal Viktor Orbán spielen. Der Ungar droht neuerlich, sich gegen die turnusmäßige Verlängerung der in den vergangenen drei Jahren verhängten Sanktionen gegen Russland zu sperren. Er verweist darauf, durch die von Trump angestoßenen Verhandlungen mit Russland habe sich die Lage grundlegend geändert. Es seien die üblichen Spielchen des Ungarn, heißt es unter den EU-Botschaftern in Brüssel.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will bis zum Gipfel ein umfassendes Konzept vorlegen, wie die EU ihre Waffenproduktion und ihre Verteidigungsfähigkeit insgesamt steigern kann. Das kündigte sie am Montag bei einer Rede in Kiew an. Sie war mit 21 weiteren Kommissarinnen und Kommissaren, mit Ratspräsident Costa und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola am Jahrestag der Invasion in die ukrainische Hauptstadt gereist, um dem Präsidenten Wolodimir Selenskij den Rücken zu stärken. Donald Trump hatte ihn vergangene Woche als „Diktator“ bezeichnet, der Mitschuld an dem Krieg trage und dem Frieden im Weg stehe.
„Es steht nicht nur das Schicksal der Ukraine auf dem Spiel, sondern das Schicksal von ganz Europa“, sagte Ursula von der Leyen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten hätten die Ukraine bislang mit 134 Milliarden Euro unterstützt, davon 48,7 Milliarden für Waffen. Niemand habe mehr getan für das Land, und die EU werde diesen Weg fortsetzen. Ein gerechter und dauerhafter Frieden sei nur aus einer Position der Stärke heraus möglich, sagte die Kommissionspräsidentin.
Die Vertreter der drei EU-Institutionen verlangten von Russland Rechenschaft für die begangenen Kriegsverbrechen sowie die Einrichtung eines Sondertribunals. Russland und seine Führung trügen die alleinige Verantwortung für diesen Krieg. Von der Leyen zeigte sich unbeeindruckt von den amerikanischen Verhandlungen mit Russland. „Wir werden unsere Strafmaßnahmen gegen Russland immer weiter verschärfen, solange es nicht den wirklichen Willen zeigt, zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.“
In Brüssel trafen sich zur selben Zeit die Außenministerinnen und Außenminister der EU, respektive deren Vertreter, und verabschiedeten formell das 16. Sanktionspaket gegen Russland. Es war bereits vergangene Woche von den EU-Botschaftern ausverhandelt worden und umfasst neue Handelsbeschränkungen sowie Maßnahmen gegen die sogenannte Schattenflotte, die dazu dient, europäische Sanktionen gegen russische Öltransporte zu umgehen.
süeddeutsche