Ukraine: Ein verzweifeltes Angebot
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Es klang nach einem weitreichenden Angebot, als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sich bereit erklärte zurückzutreten, falls dies für einen Frieden in der Ukraine erforderlich sei – und hinzufügte: „Ich kann meine Position für eine Nato-Mitgliedschaft eintauschen, wenn dies dafür nötig ist, und das unverzüglich.“ Bevor am Montagmorgen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und etliche andere prominente Unterstützer der Ukraine mit dem Zug in Kiew eintrafen, hatte Selenskij eine Pressekonferenz gegeben. Die Dinge standen zu diesem Zeitpunkt denkbar schlecht für die Ukraine.
Nicht nur hatte Washington Kiew einen Entwurf für ein Abkommen vorgelegt, das die Ukraine verpflichten soll, Rohstoffe und Einkünfte im Wert von 500 Milliarden Dollar an die USA abzugeben oder gleich das Eigentum an entsprechenden Vorkommen zu übertragen. Und das, obwohl die USA trotz der Behauptungen von US-Präsident Donald Trump über angeblich schon geleistete 350 Milliarden Dollar Hilfe tatsächlich bisher gerade 120 Milliarden Dollar an Waffen und Geld nach Kiew geschickt haben, wie der Ukraine-Support-Tracker des Kieler Weltwirtschaftsinstitutes belegt.
Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist in den Bereich des Irrealen gerücktWie um die Laune des ukrainischen Präsidenten noch zu verschlechtern, sagte Steve Witkoff im Fernsehsender CNN, Washington sei auf dem Weg zu einer Einigung mit Russland über die Ukraine „sehr weit“ vorangekommen. So weit, dass schon bei den US-Russland-Gesprächen im saudi-arabischen Riad „wir sehr nahe daran waren, etwas zu unterschreiben“, so Witkoff. Der Immobilienmilliardär war von Trump statt des eigentlichen Ukraine-Russland-Beauftragten Keith Kellogg zum Unterhändler mit Moskau ernannt worden und schon Anfang Februar zu einem Geheimgespräch mit Russlands Machthaber Wladimir Putin nach Moskau gereist.
Diese Einigung, sagte Witkoff, werde sich am sogenannten Istanbuler Protokoll orientieren, den letztlich erfolglosen Verhandlungen in den ersten Kriegsmonaten von Februar bis April 2022 zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul. Kernpunkte des von der New York Times veröffentlichten Vertragsentwurfs vom 15. April 2022 waren eine umfassende Neutralität und eingeschränkte Souveränität der Ukraine, ein Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft und eine ukrainische Mini-Armee.
Witkoff, jahrzehntelanger Geschäftspartner und Freund des US-Präsidenten, fügte hinzu, eine mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sei „faktisch zur Bedrohung für die Russen geworden, und deshalb müssen wir dies berücksichtigen“. Die Gespräche scheiterten 2022 neben etlichen weiteren Meinungsverschiedenheiten endgültig, nachdem Russlands Kriegsverbrechen, etwa in Butscha und Irpin, ans Licht gekommen waren. Doch Moskau bestand seitdem immer wieder darauf, eine mögliche Friedenseinigung könne nur unter Anerkennung russischer Eroberungen, bei einem Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft durch Kiew und gar einer offiziellen Rücknahme der Nato-Einladung an die Ukraine zustande kommen.
Es war vor diesem Hintergrund einer zumindest unter einem US-Präsidenten Trump ins Reich des Irrealen gerückten Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, dass Selenskij auf die Frage eines Journalisten, ob er zu einem Rücktritt für Frieden bereit sei, sichtlich genervt sarkastisch antwortete: „Wenn es Frieden für die Ukraine bedeutet, wenn man wirklich wünscht, dass ich meinen Posten aufgebe – ich bin bereit.“ Es folgte der Satz mit der Nato-Mitgliedschaft. Moskaus Vize-Außenminister bestand auch am Montag wieder darauf, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ausgeschlossen werden müsse.
Selenskij setzte angesichts der Situation in seiner abendlichen Videoansprache am Sonntagabend vor allem auf Europa. „Sicherheitsgarantien vereinigen die große Mehrheit. Europa, Amerika und alle unsere Partner in der Welt brauchen ein gemeinsames Verständnis, wie sicherzustellen ist, dass Putin niemals wieder irgendjemand betrügen und Russland anderen Nationen keinen Krieg mehr bringen kann, von der Ukraine und Europa bis zu Syrien, dem Nahen Osten und Afrika.“ Und, so der ukrainische Präsident weiter: „Die Schuld liegt bei Russland, bei seiner Armee, seinen Geheimdiensten, seinen Söldnern.“
Ein Lichtstreif am Horizont für die Ukraine ist, dass Selenskij zufolge die bisher von Washington zugesagten Waffenlieferungen an die Ukraine weitergehen. „Auf dem Weg sind noch 15 Milliarden Dollar“, sagte er auf seiner Pressekonferenz. Allerdings werden die bisher zugesagten Waffen nicht lange ausreichen. General Ihor Romanenko, Ex-Vizechef des ukrainischen Generalstabes, sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz dem Sender Al Jazeera, Europa könne Amerika heute nicht ersetzen. Ohne weitere US-Waffen werde die Ukraine lediglich „sechs Monate überleben“. Mike Johnson, Sprecher des US-Repräsentantenhauses, schloss aus, dass es unter der Trump-Administration ein weiteres Gesetz zur Unterstützung der Ukraine geben werde.
Vor diesem Hintergrund sagte Selenskij, wenn es für die Ukraine keine Nato-Mitgliedschaft gebe, sollten die anderen Unterstützer Kiews bereit sein, die ukrainische Armee zu finanzieren. Diese ist dem Londoner Institut für Strategische Studien zufolge heute in etwa 800 000 Mann stark. Freilich müssten auch mittel- und langfristig Waffen kommen, wie sie etwa mit dem Luftabwehrsystem Patriot aktuell nur die USA liefern können.
Zu den Verhandlungen mit den USA über das Rohstoffabkommen sagte Selenskij mit einem Seitenhieb auf Trump, er sehe, „egal, was irgendjemand sagt“, keine Schuld der Ukraine in Höhe von 500 Milliarden Dollar. „Ich unterschreibe nichts, was zehn Generationen von Ukrainern zurückzahlen müssten.“ Sein Parlamentssprecher Ruslan Stefantschuk hatte am vergangenen Freitag im Gespräch mit dem japanischen Fernsehen NHK angekündigt, zum Thema Rohstoffabkommen werde eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Dem ukrainischen Infodienst NV zufolge sollen zudem Selenskijs Stabschef Andrij Jermak und Vize-Ministerpräsidentin Julija Swyrydenko mit Washington weiterverhandeln.
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