SPD-Vorsitz | Bärbel Bas: Ruhrpottschnauze an der Spitze
Wer heute den Namen Bärbel Bas hört, denkt an das Amt der Bundestagspräsidentin, das sie vom Oktober 2021 bis zum März dieses Jahres innehatte. Vorher war Bas nur wenigen bekannt. Dabei war sie in der Legislaturperiode bis 2021 stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und für die Gesundheitspolitik verantwortlich gewesen, was in der Coronakrise eigentlich für Bekanntheit hätte sorgen sollen. Doch die große Aufmerksamkeit zog damals Karl Lauterbach als Dauer-Talkshow-Gast auf sich. Von nun an soll Bas im Mittelpunkt stehen. Die 57-Jährige führt mittlerweile das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und soll zugleich die SPD aus der Krise führen. Auf dem Parteitag Ende Juni wird sie aller Voraussicht nach zur neuen Vorsitzenden gewählt werden.
Auf das Amt als Bundestagspräsident hatte im Herbst 2021 auch Rolf Mützenich ein Auge geworfen. Doch dass mit Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz und Rolf Mützenich drei Männer in den drei höchsten Staatsämtern sitzen sollten, das war der SPD zu unausgewogen. Als sie gefragt wurde, zögerte Bas nicht lange. Sie habe gewusst, was sie wollte, erzählte sie in einem Podcast der Funke-Mediengruppe. Nach der Bundestagswahl 2021 hatte Bas schließlich mit ihrer Kollegin Kerstin Tack im Kino »Die Unbeugsamen« gesehen – einen Film über Politikerinnen der Bonner Republik. Danach versprach Bas ihrer Kollegin: Sollte man ihr Ämter anbieten, werde sie nicht ablehnen.
Dabei hatte sie im Jahr zuvor noch große Zweifel gehabt. Bärbel Bas, die seit 2009 im Bundestag sitzt und ihren Wahlkreis immer gewonnen hat, dachte ernsthaft darüber nach, mit der Berufspolitik aufzuhören. Der Grund war persönlich: Ihr Mann, der 28 Jahre ältere Siegfried Ambrosius, litt unter Parkinson. Politik in Berlin und ein kranker Mann zu Hause in Duisburg, das konnte sich Bas nicht mehr länger vorstellen. Doch im September 2020 starb Ambrosius an einer Infektion nach einer Rückenoperation. Bas spricht später von einer »Ironie des Schicksals«.
Nach dem Tod ihres Mannes setzte sie ihre politische Karriere fort und wurde Bundestagspräsidentin. Schaut man genauer auf das Paar, erhält man Einblicke in Bas’ politische Prägung. 15 Jahre waren beide zusammen, die letzten fünf Jahre verheiratet – aus pragmatischen Gründen, wie Bas sagte, weil Ambrosius an Parkinson litt und das Paar für Notsituationen vorsorgen wollte.
Siegfried Ambrosius beeinflusste das Politikverständnis seiner Frau entscheidend. Der 28 Jahre ältere Duisburger SPD-Geschäftsführer verkörperte über Jahrzehnte die Sozialdemokratie in der Stadt. Kollegen beschreiben Ambrosius als modernen Parteimanager, der früh das Internet nutzte. Gleichzeitig war er ein typischer sozialdemokratischer Kümmerer, der beim Bier auf Stadtteilfesten für Wähler*innen ansprechbar blieb. Diesen bodenständigen Politikstil hat sich Bas zu eigen gemacht.
Geboren wurde die Sozialdemokratin in Walsum, früher eine eigenständige Stadt, heute Teil von Duisburg. Die Stahlwerke von Thyssenkrupp sind nicht weit entfernt. Bärbel Bas war das zweitälteste von sechs Kindern. Zu Hause sei es immer »knapp« gewesen, erzählt sie in Interviews. Ihr Vater war Busfahrer bei der Duisburger Verkehrsgesellschaft (DVG), die Mutter Hausfrau. Urlaub, so was habe es nicht gegeben, es sei mal in einen Freizeitpark gegangen, aber das allein sei schon schwierig gewesen und nur möglich, wenn die Tante mitkam. Sechs Kinder passten nicht in ein Auto.
Als Bas zwölf war, trennten sich ihre Eltern, und die finanzielle Lage verschärfte sich noch: »Wenn ich neue Schuhe brauchte, ging meine Mutter mit mir zum Sozialamt, wo ich meine Schuhe zeigen musste«, erzählte Bas der »Zeit«. »Wenn sie zu klein oder kaputt waren, bekam ich neue. Das hat sie geprägt. Auch für Klassenreisen reichte es oft nicht.« Bas nutzte angebliche Krankheiten, um nicht erklären zu müssen, warum sie zuhause blieb.
Nach der Fachoberschulreife, die sie auf der Hauptschule erlangte, wollte Bas eigentlich eine Ausbildung zur Technischen Zeichnerin beginnen. 80 Bewerbungen habe sie geschrieben, aber keinen Ausbildungsplatz erhalten. Die Sozialdemokratin macht dafür auch Sexismus verantwortlich: »Es hieß in den Absagen, es gebe keine Toiletten für Frauen.« Ein Übergangsjahr verbrachte Bas auf einer technischen Berufsschule, lernte Feilen und Schweißen. Dann begann sie eine Ausbildung als Bürogehilfin bei der Duisburger Verkehrsgesellschaft. Ihr Vater hatte dazu geraten, und seine Tochter war zähneknirschend darauf eingegangen. Es sei ihr wichtig gewesen, schnell Geld zu verdienen, und das sei der einzige Weg aus der Armut gewesen, erzählt sie heute.
Mit der DVG ist ihr Weg aus der Armut ebenso verknüpft wie der Weg in die SPD. Als Auszubildendenvertreterin erlebte sie Streit um die Übernahme von Azubis. Sie wunderte sich, dass Kommunalpolitiker*innen darüber entschieden, und beschloss: Bei solchen Fragen will sie künftig mitreden.
Bei den Verkehrsbetrieben gab es organisierte Sozialdemokrat*innen. Bärbel Bas schloss sich ihnen an und trat 1988 mit 20 Jahren in die SPD ein. Ein Jahr später wurde sie zur lokalen Juso-Vorsitzenden gewählt, 1994 zog sie erstmals in den Duisburger Stadtrat ein.
Parallel zu diesen Engagements kümmerte sich Bas um ihren beruflichen Aufstieg. Nach einem Wechsel in die Betriebskrankenkasse der DVG folgten eine zweite Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten, eine Weiterbildung zur Krankenkassenbetriebswirtin und eine Fortbildung zur Personalmanagement-Ökonomin. Schließlich leitete Bas 2007 die Personalabteilung der Betriebskrankenkasse BKK. Dann aber wagte sie mit 38 Jahren den Sprung: Sie kandidierte für den Bundestag.
Bas holte seit 2009 immer das Direktmandat im Wahlkreis Duisburg 1. Dazu beigetragen haben dürfte, dass sie sich ein Stück weit die alte Schule der Ruhrgebiets-SPD bewahrt hat. Bas schaut bei Wahlkampfständen vorbei, geht am 1. Mai auf die Straße. Sie wirkt stets unprätentiös und achtet dabei darauf, nicht zu wichtig rüberzukommen. Dass sie bis zu ihrer Berufung ins Kabinett von Kanzler Friedrich Merz für die Arbeitnehmer*innenseite im Aufsichtsrat der Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM) gesessen hatte, dürfte ihr nicht geschadet haben.
Als Bundesministerin für Arbeit und Soziales ist Bas in ihrer erst kurzen Amtszeit nun bereits mit einigen Vorstößen aufgefallen: Ihre Rentenpläne, die eine Einbeziehung von Beamten, Abgeordneten und Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung vorsehen, stießen bereits auf Widerstand der Union. Doch Bas beharrt auf ihren Positionen. Gleichzeitig betonte sie, dass Beamte nicht um ihre Pensionen bangen müssten, schließlich gehe es darum, das System für die Zukunft zu rüsten.
Besonders aufschlussreich ist jedoch auch Bas’ Vorschlag zum Bürgergeldbezug von Armutszuwanderer*innen. Vor einigen Tagen erst ließ sich die Arbeitsministerin über angeblich »mafiöse Strukturen« aus. Diese würden Menschen mit »Mini-Arbeitsverträgen« nach Deutschland locken und dann das Bürgergeld abschöpfen. Bas möchte diese Strukturen »zerschlagen«. Notwendig sei dafür ein besserer Datenaustausch zwischen den Behörden, außerdem müsse man prüfen, »ob jemand wirklich Anspruch auf Freizügigkeit hat«.
Bas’ Initiative basiert allerdings auf einer dünnen Datenlage: Belastbare Zahlen zu organisiertem Sozialbetrug existieren nicht. Thorsten Schlee forscht zur Armutszuwanderung im Ruhrgebiet. Der »Frankfurter Rundschau« sagte er: »Angaben zu Fallarten, Fallzahlen und Schadenssummen, die Aufschluss über Ausmaß und Bedeutung des Phänomens geben, habe ich bislang vergeblich gesucht. Zwischen öffentlicher Präsenz des Themas und dem, was wir darüber wissen, besteht eine große Kluft.«
In Duisburg selbst geht die sozialdemokratische Stadtverwaltung mit einer »Taskforce Problemimmobilie« besonders repressiv gegen prekäre Wohnverhältnisse vor, von denen hauptsächlich Migrant*innen betroffen sind. Seit 2014 werden von der Taskforce regelmäßig Mietshäuser unangekündigt zwangsgeräumt, weil sie angeblich unbewohnbar seien. Davon sind ausschließlich prekarisierte Menschen betroffen. Die größte Gruppe bilden dabei Zugezogene aus Rumänien und Bulgarien, viele gehören der Minderheit der Rom*nja an.
Solche Maßnahmen zeigen exemplarisch den SPD-Typus, den Bas verkörpert. Wenn sie vorgibt, im Bund stärker gegen Armutszuwanderung vorzugehen, dann hat das ein Vorbild in ihrer Heimatstadt. Sie steht für eine Politik, die bodenständig, arbeiter*innenfreundlich, aber in der Migrationspolitik restriktiv ist.
Auffallend ist die Nähe, die sie zum Ruhrgebiet bewahrt. Immer wieder macht sie Abstecher dorthin. An einem Maiabend in Herne steht Bas beim SPD-Familienfest am Basketballkorb. Ein paar Würfe, Selfies mit den Rentner*innen, Bier mit den Genoss*innen – das ist ihr Element. Hier funktioniert noch, was anderswo längst nicht mehr zieht: die Nähe zur Basis, das Versprechen des Aufstiegs. Die Frage ist nur, ob das für ganz Deutschland reicht. In knapp zwei Wochen werden es die Delegiert*innen des SPD-Parteitags entscheiden.
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