So lange dauert eine Flucht nach Europa

Im Herkunftsland in den Bus oder Zug setzen und in der EU wieder aussteigen, so verlief die Flucht mancher Menschen aus der Ukraine. Die Regel ist das aber nicht. Die Dauer der Flucht, die Kosten, aber auch die Gefährlichkeit der Routen variieren. Und mit jedem Transitland, das Geflüchtete durchqueren müssen, steigt das Risiko, von dort aus nicht weiterzukommen.
Eine Erhebung des Mixed Migration Centres (MMC) unter rund 20.000 Geflüchteten in Nordafrika, in der Türkei und in Südeuropa zeigt, dass einige Betroffene nur wenige Tage, andere dagegen deutlich über vier Jahre unterwegs sind.
Mehr als die Hälfte der Syrerinnen und Syrer hat weniger als einen Monat bis in die Europäische Union gebraucht. Unter Iranerinnen und Iranern sind es gar 61 Prozent. Sie haben meist nur ein Transitland durchquert – die Türkei. Dorthin schafften es 90 (aus Syrien) beziehungsweise 86 Prozent (Iran) sogar binnen weniger Tage.
Differenzierter sind die Zahlen für Menschen aus Afghanistan. Fast ein Drittel brauchte keinen Monat bis in die EU, genauso viele benötigten aber länger als ein Jahr. Vier Prozent waren gar schon länger als vier Jahre unterwegs. Im Schnitt mussten Menschen aus Afghanistan auf ihrer Flucht nach Europa 3,6 Transitländer durchqueren. An durchschnittlich vier Orten hielten sie sich unterwegs länger auf, im Schnitt 2,4 Stationen nahmen sie als gefährlich wahr. Dennoch schafften es 47 Prozent binnen eines Monats in die Türkei, weitere 25 Prozent binnen drei Monaten.
Menschen aus Pakistan waren am längsten unterwegs. Nur 13 Prozent brauchten maximal einen Monat, dafür aber mehr als die Hälfte länger als ein Jahr für die Flucht in die EU. Durch fünf bis sechs Transitländer mussten sie reisen und an rund drei Orten hielten sie sich länger auf.
Als gefährlich nahmen die Geflüchteten laut Daten von Oxfam, Unicef und MMC vor allem die iranisch-türkische und die iranisch-afghanische Grenze, türkische Städte wie Izmir und Istanbul, Charmanli in Bulgarien, das Grenzgebiet Kroatien, Serbien und Ungarn sowie die bosnisch-kroatische Grenzregion wahr. Viele Geflüchtete aller Routen gaben an, sich wegen der Gefahren nur in Gruppen fortzubewegen.
Deutlich länger sind die Menschen auf den verschiedenen Routen durch den afrikanischen Kontinent unterwegs. Besonders heikel ist es in der Sahara. Meist werden Geflüchtete zusammengepfercht auf der Ladefläche von Lastwagen oder Pick-Ups durch die Wüste gekarrt, in der Nacht, ohne Licht, um nicht aufzufallen. Fällt jemand durch die Enge oder durch körperliche Schwäche vom Auto, wird er zurückgelassen. Immer wieder passieren Unfälle, immer wieder bleiben Autos stecken, kommen Fahrer von der Route ab, verirren sich. Immer wieder verdursten Menschen.

Viel zu viele Menschen zusammengepfercht auf der Ladefläche in Agadez, Niger. Hier starten die mehrtägigen Fahrten durch die Sahara nach Nordafrika.
Quelle: IMAGO/Pond5 Images
Ein Bericht der International Organization for Migration (IOM) und des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR legt nahe, dass in der Sahara mindestens doppelt so viele Flüchtlinge sterben wie auf dem Mittelmeer. Die Dunkelziffer ist wohl weitaus höher, die Toten werden oft nur zufällig gefunden. „Die Menschen liegen namenlos tot am Wegesrand. Das sind Tote, die in der Debatte in Europa nicht vorkommen“, sagt Karl Kopp, Geschäftsführer von Pro Asyl, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er weiß: „Viele klassische Routen sind inzwischen geschlossen, weshalb die Wege immer tiefer in die Wüste führen und dadurch gefährlicher werden.“
Gefragt nach Orten, an denen sie besonders große Angst um ihr Leben hatten, nannten die meisten Geflüchteten Libyen, gefolgt von der Sahara, Niger, Mali und dem Mittelmeer auf Platz 5. Wer die Sahara überlebt, muss auf dem Weg nach Europa noch über das Mittelmeer. Rund 2500 Menschen sind dort im vergangenen Jahr gestorben. „Nicht jeder, den wir in Lampedusa befragen, hat auf dem Meer jemanden sterben sehen. Aber jeder, der die Wüste durchquerte, sah, wie jemand dabei starb“, sagte Vincent Cochetel von UNHCR.
Vor allem in Mali und Niger laufen die verschiedenen Fluchtrouten aus West- und Zentralafrika zusammen. Von hier aus geht es nach Algerien oder Tunesien und Libyen ans Mittelmeer. Gao in Mali und Niamey und Agadez in Niger sind drei Hauptknotenpunkte diverser Fluchtrouten; auch im Norden des Tschad, rund um die Oase Bardai, laufen verschiedene Wege aus West-, Zentral- und Ostafrika zusammen.
Aus Westafrika kommend gaben 16 Prozent an, nur maximal einen Monat bis in die EU gebraucht zu haben. 47 Prozent waren kürzer als ein Jahr unterwegs, 20 Prozent zwischen ein und zwei Jahren und 22 Prozent zwischen zwei und vier Jahren. Im Schnitt wurden 2,3 Transitländer durchquert und an 2,6 Orten längere Stopps etwa zum Arbeiten eingelegt. Als gefährlichste Orte machten Befragte Agadez, das algerische Tamanrasset und die libyschen Städte Kufra und Sabha aus.
Etwa jeder dritte Geflüchtete aus Zentralafrika benötigte weniger als drei Monate bis Europa, 43 Prozent jedoch länger als ein Jahr. Sowohl aus West- als auch aus Zentralafrika ist etwa jeder Geflüchtete länger als vier Jahre unterwegs.
Weil die Sahara-Durchquerung immer schwieriger wird und in vielen Transitländern Gefahren drohen, hat sich in den jüngsten Jahren eine alternative Route über den Atlantik nach Europa etabliert. Von Conakry (Guinea), Bissau (Guinea-Bissau), Ziguinchor und Saint-Louis (beides Senegal), Nouadhibou (Mauretanien), Dakhla (Westsahara) sowie den marokkanischen Städten Tarfaya, Tan-Tan und Guelmim legen Boote auf die zu Spanien gehörenden Kanaren, rund 100 Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt, ab.

Rund 47.000 Menschen schafften 2024 die Flucht von Westafrika auf die Kanaren auf dem Atlantik, wie hier nach El Hierro. Mehr als 10.000 starben.
Quelle: Antonio Sempere/EUROPA PRESS/dpa
Auf dieser Route müssen bisweilen knapp 2500 Kilometer auf dem Atlantik zurückgelegt werden. Rund 47.000 Geflüchtete kamen laut spanischen Behörden im vergangenen Jahr auf den Inseln an. 10.457 Menschen wurden als vermisst oder tot gemeldet. Damit gilt die Atlantik-Route als eine der gefährlichsten der Welt. Die Geflüchteten kamen meist aus Marokko und Westsahara, aus Senegal und Mali. Erhebungen, wie lange diese Menschen von ihrem Ausgangspunkt unterwegs waren, gibt es nicht.
Menschen aus Ostafrika sind mit Abstand am längsten unterwegs – obwohl sie deutlich weniger Länder durchqueren müssen (3 aus Sudan und Südsudan, 2,7 vom Horn von Afrika kommend). 83 Prozent brauchten länger als ein Jahr, um Europa zu erreichen. Nur 1 Prozent der Geflüchteten aus Sudan und Südsudan war kürzer als drei Monate unterwegs. Mit 36 Prozent waren die meisten vor zwei bis vier Jahren aus ihrer Heimat aufgebrochen, jeder Fünfte bereits vor mehr als vier Jahren. Wegen militanter und terroristischer Gruppen, Unruhen und Konflikten gerät die Reise immer wieder ins Stocken.
Karl Kopp, Geschäftsführer Pro Asyl
Noch länger brauchten Menschen aus dem Horn von Afrika. Keiner der Befragten gab an, weniger als drei Monate benötigt zu haben. 6 Prozent schafften es in weniger als einem halben Jahr, weitere 11 Prozent binnen eines Jahres. Jeder fünfte Geflüchtete aus Ostafrika war bereits zwei bis vier Jahre unterwegs und 49 Prozent länger als vier Jahre. Rund drei längere Stopps haben die Geflüchteten auf ihrer Reise gen Norden eingelegt oder einlegen müssen.

Das Flüchtlingslagers Zamzam in Darfur wurde jüngst im Bürgerkrieg schwer beschädigt.
Quelle: Uncredited/Maxar Technologies/AP
Auffällig an den Daten: Die Reise innerhalb des Kontinents ging für viele deutlich schneller als das Warten auf die Überfahrt nach Europa. Aus Zentral- und Westafrika erreichten 45, beziehungsweise 46 Prozent der Geflüchteten die nordafrikanische Mittelmeerküste innerhalb eines Monats. Aus Sudan und Südsudan waren es immerhin noch 30 Prozent.
Es gibt - nebst der bloßen Distanz - weitere Faktoren, die über die Fluchtdauer entscheiden:
Das Geld
Je länger eine Flucht dauert, desto teurer wird sie. Mit je weniger Geld Menschen in ihrem Heimatland aufbrechen, desto schneller müssen sie sich mit (illegalen) Jobs durchschlagen, um für den nächsten Schritt der Flucht zu sparen. Manchmal bleiben sie länger an einem Ort, an dem sie relativ sicher sind und ein Auskommen haben – falls es unterwegs schwieriger wird, haben sie finanzielle Rücklagen.
Das Verkehrsmittel
Wer wohlhabend ist, kann komfortabler reisen. Einige Geflüchtete können Teile der Strecke mit dem Flugzeug zurücklegen, weil es zwischen den Ländern Visa-Regelungen gibt. Tunesien erlaubt, Libyen erlaubte die Einreise für viele westafrikanische Menschen. Generell ist es schwieriger, je mehr Kontrollen bei einem Verkehrsmittel zu erwarten sind. Auch Geld spielt hier eine Rolle: Wer sich ein falsches Visum kaufen kann, kann schneller vorankommen.

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Die Transitländer
„Es gibt keinen legalen und keinen regulären Fluchtweg“, sagt Kopp, „immer dort, wo Staaten plötzlich blockieren, gibt es Verschiebungen.“ Relevant sind etwa Grenzkontrollen beziehungsweise Kontrollen innerhalb eines Transitlandes, welche Strafen illegalen Migrantinnen und Migranten drohen, wie die Sicherheitslage insgesamt ist, welche Gruppierungen lokal mit wie viel Gewalt regieren. Ist das Risiko zu groß, können Umwege um ein Land herum (oder eine Region innerhalb eines Landes) entstehen, die Zeit und Geld kosten.
„2015 waren Menschen aus Syrien teils nur fünf Tage unterwegs, weil die Grenzen offen waren“, sagt Kopp, „das dauert heute viel länger“. Da mittlerweile sowohl Ungarn als auch Serbien verschärfte Kontrollen haben, gibt es eine Verlagerung. „Die martialisch gesicherte EU-Grenze von Belarus nach Polen ist heute ein Hotspot“, so Kopp.
Ein Beispiel ist auch Niger. Jahrzehntelang ließ das westafrikanische Land Geflüchtete aus West- und Zentralafrika durchziehen. Die Stadt Agadez wurde zum Drehkreuz zahlreicher Flüchtlingsrouten. Ein Abkommen mit der EU und der Militärputsch veränderten die Lage. Niger geht rigoroser gegen Schlepperbanden vor. Das hat die bis dato verhältnismäßig sichere Route durch die Sahara verändert, da weniger professionelle Akteure aktiv sind und die Routen tiefer in die Wüste führen.
Faktor gescheiterte Versuche
„Wir hören von Menschen, die es teilweise erst beim achten Versuch von der Türkei nach Griechenland geschafft haben“, sagt Kopp, „sie wurden mehrfach Opfer von illegalen und gewaltsamen Zurückweisungen und haben Monate verloren.“
Jeder Einsatz eines Schleppers kostet Geld, auch wenn der Fluchtversuch scheitert. Eine Überfahrt von Nordafrika nach Italien lassen sich Schleuser mit rund 500 bis 3000 Euro bezahlen, wie Überlebende schilderten. Scheitert der Versuch, ist das Geld weg und muss erst neu verdient werden.
Die Durchquerung der Sahara kann sogar noch teurer werden - je nach Quellenlage ist von 1000 bis 6000 Euro die Rede. Die gefährliche Atlantiküberfahrt kostet demnach zwischen 350 und 1000 Euro.
rnd