Michael Andrick: Vom Totalisieren und Normalisieren

Eine unauffällige Verhaltensweise erzeugt in Diskussionen oft beklemmenden Stillstand. Wer das Muster erkennt, kann das Gespräch wieder in Gang bringen.
Von Antoine de Saint-Exupéry ist die Ansicht überliefert, dass Vollkommenheit nicht dann erreicht werde, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern dann, wenn man nichts mehr weglassen könne. Wer viele und gar noch schwierige Worte macht, dem wird vorgeworfen, im „Elfenbeinturm“ zu sitzen und womöglich seine Leser zu verachten. Einfachheit macht sympathisch und effizient in der Kommunikation.
Weniger Beachtung als das Verkomplizieren findet bisher eine ganz anderes sprachliches Verhalten, das viel heiklere Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs hat: Das Totalisieren. Es handelt sich hier um eine Art Abstraktionsvandalismus, den es sich aufzuklären lohnt.
Die meisten Alltagsthemen erlauben es, in einem überschaubaren Horizont zu bleiben und sich gleichberechtigt auszutauschen. Wollen wir zum Beispiel unsere Ansichten zur Kirche im Dorf klären, so können alle Beteiligten nachvollziehen, was wir über sie sagen: Den Begriff „Kirche“ kennen alle, das Dorf auch, und ob die Schilderung der Buntglasfenster stimmt, kann jeder nachschauen gehen.
Alle können bei derart klar umrissenen Gegenständen zwanglos mitreden und sind gemeinsam lernfähig, keiner ist „Experte“. So sollten auch politische Diskussionen sich anfühlen, damit die Erfahrung vieler Menschen zur Lösungsfindung genutzt werden kann.
Was geschieht nun beim Totalisieren einer Diskussion? Die Totalisierung einer Diskussion ist ihre gedankliche Ausweitung aufs große Ganze – der Bezugsrahmen der Argumente wird zwar nicht ins Unendliche, aber doch ins Unüberschaubare ausgedehnt.
Gleichzeitig damit entsteht der Eindruck, nun müsse jeder Diskutant zunächst eine enorme Komplexität durchschauen und berücksichtigen, um überhaupt noch zur Sache sprechen zu können. Oft wird durch die Art und Weise, in der die Totalisierung sprachlich vollzogen wird, auch eine moralische Drohkulisse aufgebaut.
Bargeld im großen GanzenBetrachten wir ein unspektakuläres Beispiel. So sagt etwa Fritz: „Wir sollten auf jeden Fall weiter Bargeld haben. Ich will doch nicht immer eine Datenspur bei der Bank hinterlassen, wenn ich einkaufe.“ Fritz hat einen konkreten Wunsch aufgrund eines konkreten Bedenkens. Darauf erwidert Paul: „Bargeld ist das wichtigste Mittel des organisierten Verbrechens, um Erlöse aus kriminellen Aktivitäten in legitime Guthaben zu verwandeln. Das heißt Geldwäsche. Deswegen müssen wir Bargeld am besten abschaffen.“
Die Totalisierung der Diskussion erfolgt in Pauls Erwiderung auf sehr unauffällige Weise. Der Begriff „organisiertes Verbrechen“ bringt uns zwanglos dazu, den Rahmen der Erwägung auf sämtliche wirtschaftliche Aktivitäten der Gesellschaft auszuweiten. Zweifellos ist überall, wo Geld zu machen ist, das Anhäufen von unsauberem Bargeld theoretisch möglich.
Schon beim Nachdenken über seine Erwiderung findet Bargeld-Fritz sich nun in einem Bedeutungsraum wieder, den kein Mensch ohne spezielle Vorbildung überschauen kann: die Wirtschaft und das Verbrechen, weite Felder. Zudem deutet der sprechende Fachbegriff „Geldwäsche“ an, dass die Sache von anderen – unter anderem wohl von Kreditkarten-Paul – schon auf klare Begriffe gebracht worden ist. Peinlich, wenn man sich hier vertut. Und schließlich sagt Pauls Plädoyer gegen Bargeld aus, dass seine Verteidiger Kriminellen den Steigbügel halten oder ihnen die Waschmaschine für ihre „Geldwäsche“ bereitstellen. Das Ergebnis ist kognitive Hilflosigkeit und emotionale Beklemmung, als uninformiert und zudem unmoralisch dastehen zu können mit einer unbedachten Antwort – die in diesem Zustand nicht unwahrscheinlich ist.
Kunst des NormalisierensDie psychosoziale Lage Bargeld-Fritzens könnten wir als ein großes „Ähm, okay, naja …“ bezeichnen. Um die Struktur des Diskursmusters der Totalisierung besser zu durchschauen, lade ich den Leser ein, selbst ein oder zwei Beispiele von Fritz-und-Paul-Dialogen zu erfinden. Nimmt man als Sachmaterie die sogenannte „Klimarettung“, so kann man sich die totalisierenden Diskussionsbeiträge auch leicht in der Tagespresse heraussuchen. Konsum-Paul und Flugscham-Fritz liefern sich dort andauernd Gefechte auf einem Schlachtfeld, das klimabesorgte Redner mit Thesen etwa über das Aussterben der Menschheit („die letzte Generation“) und das Überschreiten von „Kipp-Punkten des Ökosystems“ zuvor totalisiert haben.
Was tun, wenn man Opfer von Totalisierung wird? Wie dem großen „Ähm, okay, naja …“ entkommen? Die Normalisierung klappt meist in drei Schritten. Wer totalisiert, der beansprucht die Totalität, die er thematisiert, selbst zu überschauen: die Wirtschaft, das Klima, etc. Er sitzt also hoch zu Ross, und im ersten Schritt holen wir ihn herab.
Die richtige Deutung einer Totalität muss nämlich immer umstritten sein. Denn beim Totalisieren werden alle Phänomene eines weiten Bereichs zur Diskussion aufgerufen. Und so muss vor allem Argumentieren in totaler Perspektive erstmal geklärt sein, was Wirtschaft eigentlich ausmacht und umfasst. Aristoteles, Adam Smith und Karl Marx haben dazu sehr Verschiedenes gesagt.
Deshalb taugt als Einstieg in die Normalisierung die – am besten grenzdebil lächelnd – vorgetragene Frage: „Du hast also die Wirtschaft und das Verbrechen durchblickt und willst mich jetzt vor Geldwäsche schützen?“ Schieben Sie ein „Danke!“ nach. Und dann: „Was genau meinst du mit Wirtschaft? Was genau meinst du mit Verbrechen?“ Das große „Ähm, okay, naja …“ wechselt langsam die Seiten und beschäftigt nun Kreditkarten-Paul. (Das funktioniert auch bei totalisierenden „Klimarettern“ oder „Gesundheitsschützern“.)
Im zweiten Schritt zeigt man nun, dass man selbst die Kirche im Dorf lässt: „Es gab große Daten-Leaks, die Menschen extrem beschämt und sozial erledigt haben. Jemand soll auch Dinge kaufen können, die ihm peinlich sind, ohne dass das dokumentiert ist. Dazu braucht man Bargeld.“ Man argumentiert mit allseits bekannten Tatsachen und kommt auf seinen konkreten Wunsch zurück.
Abschließend empfiehlt sich der Hinweis, dass auch Anliegen, die nicht das große Ganze, sondern konkrete Menschen in konkreten Situationen betreffen, wertvolle Anliegen sind. Sie haben zudem demokratieseitig den Vorteil, dass sie – anders als die Rettung der Welt im Ganzen – ohne den angemaßten Universaldurchblick von „Experten“ unter Gleichen diskutiert und entschieden werden können.
Michael Andrick ist Philosoph, Kolumnist der Berliner Zeitung und Bestseller-Autor. Sein erster Essay- und Aphorismenband „Ich bin nicht dabei – Denk-Zettel für einen freien Geist“ erschien im Mai im Verlag Karl Alber.
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