Kritik an Wirtschaftsministerin: Katherina Reiche stolpert sich in die Habeck-Nachfolge

Politische Sommerreise mit Herbstwetter: Katherina Reiche hat zahlreiche Unternehmen in mehreren Bundesländern aufgesucht.
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Zumindest ist Katherina Reiche nach ihren scharf kritisierten Einlassungen zur Rente jetzt ein wenig bekannter. Die noch neue Bundeswirtschaftsministerin hat sich bis dahin auffällig zurückgehalten. Dafür gibt es Gründe. Durchhalten kann sie diesen Kurs nicht.
Gleich mehrere Zuhörer tauschen vielsagende Blicke aus, als die Bundeswirtschaftsministerin zu reden beginnt in der Sporthalle im fränkischen Oerlenbach. Mit reichlich "äh" und "ähm" begrüßt Katherina Reiche etwas zu ausführlich die versammelten Gäste aus Politik und Wirtschaft. Eben noch hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mit reichlich breitbeinigen Zoten für Lacher gesorgt. Nur wenige davon hatten mit dem Anlass zu tun, den feierlichen Start des nächsten Baustellenabschnitts der Giga-Stromtrasse Südlink. Es folgt die Gästin aus Berlin, die nüchtern über die Herausforderungen der Energiewende spricht. Die Saaltemperatur fällt, als endete ein Konzert des fast genauso breitbeinigen Pop-Eskapisten Robbie Williams mit einem Fachreferat zum Thema Vernunft.
Katherina Reiche, so viel wird während ihrer Sommerreise durch die Republik deutlich, ist nicht zum Spaß hier. "Hier", das sind die Südlink-Baustelle und das Rüstungsunternehmen Diehl in Bayern, der Chemiepark Leuna in Sachsen-Anhalt; der Flugzeugbauer Airbus, der Maschinenbauer Fette Compacting und der Hafen in und bei Hamburg; der Chemieriese Covestro, der Maschinenhersteller Agathon und der Zulieferer Kirchhofff Automotive in Nordrhein-Westfalen; das Rüstungsunternehmen KNDS in Hessen.
"Hier" ist das Amt in Berlin, das ihr im April überraschend in den Schoß gefallen war. Damals trug der werdende Bundeskanzler Friedrich Merz der Gasmanagerin Reiche die Nachfolge des grünen Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck an, nachdem die 52-Jährige zehn Jahre zuvor aus der Unionsfraktion im Bundestag in die Wirtschaft gewechselt war. Nach drei Monaten lässt sich sagen: Reiche ist die von CDU und CSU ersehnte Anti-Habeck, sie hat klare Vorstellungen, unterscheidet sich von ihrem Vorgänger fundamental in ihrem Auftreten. Nur angekommen ist die Christdemokratin aus dem brandenburgischen Luckenwalde im Amt noch nicht.
CDU-Arbeitnehmer sprechen von "Fehlbesetzung"Erstmals für Furore sorgt Reiche als Ministerin mit einem im Kern harmlosen Interview in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Gefragt nach ihrer bislang ausgebliebenen Kritik an den teuren Rentenplänen der schwarz-roten Bundesregierung sagt Reiche: "Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen." Diese und ein paar weitere Sätze zur ausufernden Unterfinanzierung der Rente - keiner davon wirklich neu - schlagen im politischen Berlin inmitten der parlamentarischen Sommerpause ein wie eine kleine Bombe.
Die scharfe Kritik von Linken und Grünen ist erwartbar. Doch nicht nur die SPD als kleiner Koalitionspartner der Union ist umgehend auf der Zinne. Von einem "Schlag ins Gesicht" für viele Arbeitnehmer spricht Vize-Kanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil. Der Sozialflügel der CDU, CDA, nennt Reiche eine "Fehlbesetzung". Thüringens Ministerpräsident und CDU-Präsidiumsmitglied Mario Voigt hält eine Anhebung der Renteneintrittsalters für "realitätsfern und schlicht nicht zumutbar". Bundeskanzler Merz soll Reiche gerüffelt haben. Während ihrer Sommerreise zeigt sich die Ministerin erkennbar genervt von wiederkehrenden Journalistenfragen zur Rente.
Reiche hat vor ihren Einlassungen offensichtlich unterschätzt, wie sehr die Nerven bereits blank liegen in der Bundesregierung, nachdem schon der Streit um drei neue Bundesverfassungsrichter ein tiefsitzendes Misstrauen unter den Koalitionspartnern entlarvt hat. Hinter vorgehaltener Hand bewerten mehrere Unionspolitiker Reiches Start ins Amt als unglücklich. Auch sonst ist Unfreundliches über Reiche zu hören: Fraglos voreingenommene Grünen-Politiker mit eigenem Draht in das einstige Habeck-Ministerium berichten, die neue Hausleitung schotte sich ab und begegne den eigenen Mitarbeitern mit Misstrauen.
Auf Distanz zu den MedienMisstrauen spüren aber auch Journalisten, denen gegenüber Reiche auffällig Abstand wahrt. Nicht nur gibt sie vergleichsweise wenige Interviews, auch ihre Antrittsreise nach Washington unternimmt Reiche ohne den üblichen Pressetross. Politiker nutzen Sommerreisen üblicherweise auch zur Beziehungsarbeit mit den sie begleitenden Journalisten, Reiche aber hält Distanz. Keinerlei Geplänkel, dafür aber auch nicht das routinierte Inszenieren pressetauglicher Bilder, wie sie Habeck verlässlich bei jedem Ortstermin lieferte. Anders als der Grüne ist Reiche, die öffentlich immer ein Christenkreuz an der Halskette trägt, stets korrekt gekleidet und perfekt gestylt. Soweit die Journalisten dabei sein dürfen, stellt Reiche den sie empfangenden Unternehmenschefs allerlei Fragen, die von einer gewissen Kenntnis der Materie zeugen.
Ein wenig schmeichelhaftes Porträt in der "Zeit" aus diesem Juli dürfte die Mutter von drei Kindern in ihrer Medienskepsis bestätigen. Reiche hat da so ihre Erfahrungen: Nach ihrem steilen Aufstieg von der 25-jährigen Bundestagsabgeordneten zur Parlamentarischen Staatssekretärin in zwei Bundesministerien wechselte sie 2015 an die Spitze des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU). Der Schritt erfolgte kurz vor Inkrafttreten eines Gesetzes, das eine Ruhezeit zwischen Regierungsämtern und Lobbytätigkeiten vorschreibt. Über Reiche ergoss sich reichlich Empörung, sie musste als Sinnbild gieriger Karrierepolitiker herhalten.
"Ich sitze abends selten auf dem Sofa"Ein in medialer Hinsicht ebenfalls gebranntes Kind ist Karl-Theodor zu Guttenberg. Der einstige Hoffnungsträger der CSU war in Teilen der Medien erst umjubelter Verteidigungsminister und wurde wegen Plagiaten in seiner Doktorarbeit umso heftiger geschmäht. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ ihn schließlich fallen. Ein Schwarzweiß-Porträt des adligen Bayerns ziert heute den Display-Hintergrund von Reiches Handy. Die beiden sind liiert. Mitarbeiter von Reiches Ministerium waren überrascht, Guttenberg in Washington zu sichten. Einen entsprechenden Bericht der "Zeit" konnte ntv bestätigen. Guttenbergs Rolle in Reiches Amtsausübung: unklar.
Ob sich die beiden abends auf dem Sofa über Politik austauschen, wollte die "Frankfurter Allgemeine" wissen. "Mein Privatleben bleibt privat. Nur so viel: Ich sitze abends selten auf dem Sofa." Den ersten Satz hätte auch Habeck gesagt. Den zweiten hätte er zumindest nicht zum Zitieren freigegeben: Anders als Manager präsentieren sich selbst die fleißigsten Politiker dem Wahlvolk lieber als nahbare Normalos denn als verbissene Arbeitstiere. Die vormalige Vorstandsvorsitzende des Eon-Unternehmens Westenergie, das einschließlich Tochterfirmen rund 11.000 Mitarbeiter zählt, hat den Rollenwechsel zur öffentlichen Person und Gesicht der Merz-Regierung nur bedingt vollzogen.
Reiches Berufung erfolgte aus der Not. Weder CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann noch der stattdessen zum Unionsfraktionsvorsitzenden aufgestiegene Jens Spahn wollten die Nachfolge Habecks antreten, den sie zuvor als schlechtesten Wirtschaftsminister aller Zeiten tituliert hatten. Zumal das Ministerium in den Koalitionsverhandlungen kräftig gerupft wurde. Kompetenzen und Budget wanderten an das Umweltministerium und an die beiden neu geschaffenen Ministerien für Staatsmodernisierung sowie für Luft- und Raumfahrt. Reiche hatte da weder Mitsprache und noch Zeit, sich auf ihr Amt vorzubereiten. Was also ist wirklich Ausdruck echten Misstrauens in ihr neues Umfeld? Was ist vorsichtiges Vortasten auf dem Weg zurück in die Hyänen-Arena Bundespolitik?
Wenigstens die Unternehmenschefs freuen sichEinen Vertrauensvorschuss gewähren Reiche zumindest die Unternehmer. "Aller Ehren wert", findet Markus Steilemann, CEO von Covestro, dass die Ministerin "ganz persönlich sich auch einer neuen wirtschaftlichen Ehrlichkeit" verpflichtet sehe. Er wolle sich dafür "bedanken". Arndt Kirchhoff, Aufsichtsratsvorsitzender des gleichnamigen Automobilzulieferers und Präsident des Landesverbands der Metall- und Elektroindustrie NRW springt Reiche mit Blick auf die Rentendebatte zur Seite. Er wolle "ausdrücklich unterstützen im Namen der gesamten deutschen Industrie und des Handwerks und der Bauindustrie, dass das richtig ist, was sie sagt und was sie fordert".
Nahe der Südlink-Baustelle in Franken ist es wiederum Dirk Güsewell, Vorstandsmitglied beim Energieriesen EnBW, der Reiche unbedingt öffentlich loben möchte - diesmal für den "Schwerpunkt der Bezahlbarkeit" der Energiewende, den Schwarz-Rot gesetzt habe. Er preist Reiche ausdrücklich dafür, eine Studie zum Stand der Energiewende beauftragt zu haben, "bevor wir weitere Vorhaben angehen, die realistisch betrachtet, vielleicht über den Bedarf hinausgehen".
Härtetest im HerbstIn diesem Herbst endet Reiches Phase des Herantastens: Der Monitoringbericht zum Stand der Energiewende soll Anfang September erscheinen. Zu erwarten ist, dass dieser als Vorlage für ihre Energieagenda dienen wird: die an den Erneuerbaren Energien gut verdienenden Unternehmen stärker an den Kosten des Stromnetzausbaus beteiligen und Wasserstoff als komplementären Energieträger etablieren, was dem Gasnetz in Deutschland und seinen Betreibern eine wirtschaftliche Zukunft sichern würde. Um eine Wasserstoffwirtschaft überhaupt erstmal zu etablieren, setzt Reiche auch auf Wasserstoff aus Erdgas und Atomkraft, den Deutschland importieren müsste. Grüner Wasserstoff ist noch zu rar und zu teuer, weshalb es an Nachfrage und Investoren mangelt.
Für Reiches Ansinnen gibt es gute Argumente, doch der Gegenwind aus Teilen der Energiewirtschaft sowie von Grünen und dem Koalitionspartner SPD ist absehbar. Groß ist die Sorge vor einer erneuten Altmaier-Delle, benannt nach dem Habeck-Vorgänger Peter Altmaier, unter dem der Erneuerbaren-Ausbau schon einmal eingebrochen war.
Reiche wird starke Nerven brauchen, wenn sie im Zuge konkreter Gesetzentwürfe und Verordnungen aus ihrem Haus wieder mit dem Vorwurf des Gas-Lobbyismus konfrontiert wird. Sie wird großes politisches Geschick benötigen, damit sich die Koalition als ganze hinter ihren Kurs stellt. Das gleiche gilt für die ihr aufgetragene Reform von Habecks Heizungsgesetz: Auch da gehen die Vorstellungen zwischen SPD und Union weit auseinander. Mehr Sofa-Zeit als bisher hat Reiche jedenfalls nicht in Aussicht.
Quelle: ntv.de
n-tv.de