Der 9. Mai ist zum ideologischen Kultritual von Putins Macht geworden

Am 9. Mai feiert Russland nicht einfach das Ende des Zweiten Weltkriegs – es inszeniert den Sieg über Nazi-Deutschland als sakralen Gründungsmythos. Was in anderen Ländern ein Tag stillen Gedenkens ist, hat sich unter Wladimir Putin zu einem politisch-rituellen Hochamt autoritärer Machtdarstellung gewandelt. Der sogenannte „Tag des Sieges“ ist zur sakralen Chiffre einer autoritären Herrschaft geworden, die in ihrer Gegenwart keine Legitimation mehr findet – und diese deshalb umso vehementer in der Vergangenheit verankert.
Ein Todeskult, kein bloßer ErinnerungstagWas einst als stilles, familiäres Gedenken begangen wurde – ein „Feiertag mit Tränen in den Augen“, wie es ein berühmtes sowjetisches Kriegslied nennt, wurde zum zentralen Machtinstrument des Kremls umgedeutet. Aus dem Gedenken an 27 Millionen Tote wurde ein Fest der Selbstbeweihräucherung: mit Panzern und Atomraketen auf dem Roten Platz, mit Kampfbombern über Moskau, mit Popstars auf der Bühne und mit einer Ästhetik, die mehr an einen Triumphmarsch als an eine Trauerfeier erinnert. Das einstige Bekenntnis „Nie wieder Krieg“ verkehrte sich in die triumphalistische Parole „Wir können es wiederholen!“ – ein seit Jahren staatlich verordneter Slogan.
Die politische Aufladung dieses Datums begann im Jahr 2005, zum 60. Jahrestag des Endes des sogenannten „Großen Vaterländischen Krieges“ (Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland 1941-1945), mit der bewussten ideologischen Neudefinition des Feiertags. Der Kreml erkannte früh, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht nur ein für das kollektive Gedächtnis der Völker der ehemaligen Sowjetunion wichtiges historisches Kapitel darstellt, sondern auch politisch instrumentalisierbar ist. Im Jahr 2005 war die Russische Föderation noch keine 15 Jahre alt. Weder die Zarenzeit noch die Sowjetunion vermochten eine konsistente Traditionslinie in die Gegenwart zu stiften. So blieb nur eine kollektive Erinnerung wirklich lebendig: der „Große Vaterländische Krieg“. Der Sieg von 1945 – moralisch eindeutig, emotional aufgeladen, international anerkannt – wurde zum einzigen unumstrittenen Bezugspunkt. Und zum Identitätsanker einer neuen Staatsideologie.

Wladimir Putin selbst bezeichnete den 9. Mai mehrfach als „wahrhaft gesamtnationalen heiligen Feiertag“. Diese Formulierung ist keine leere Floskel. Der „Große Sieg“, wie er im offiziellen Diskurs heißt, ist längst kein historisches Ereignis mehr – er ist zum politischen Sakrament geworden. Wie in jeder säkularisierten Staatsreligion wird die zentrale Glaubenswahrheit nicht nur verkündet, sondern durch Altäre aus Stahl, Rituale aus Beton und Dogmen in Paradeuniform abgesichert.
Diese religiöse Komponente zeigt sich besonders deutlich in der engen Verzahnung von Staat und Kirche. So wurde 2020 im Moskauer Gebiet die Hauptkirche der Russischen Streitkräfte eingeweiht – ein monumentales Bauwerk in Tarnfarbengrün, das dem 75. Jahrestag des Sieges gewidmet ist. Die Architektur spricht eine hochsymbolische Sprache, die keine Zweifel an den Absichten aufkommen lässt: Die Hauptkuppel misst 19,45 Meter im Durchmesser (für das Jahr 1945), der Glockenturm ist 75 Meter (für den 75. Jahrestag) hoch, die kleine Kuppel misst 14,18 Meter (für die 1418 Kriegstage), das Fundament besteht aus 435 Pfählen zu je 15 Metern Länge – zu Ehren der 150. Schützendivision des 79. Schützenkorps der 3. Armee der Belarusischen Front, die 1945 die Fahne über dem Reichstag hisste.
Die Kirche wird umgeben von einem 1418 Meter langen multimedialen Gedenk- und Ausstellungskomplex „Straße des Gedenkens“, der die Geschichte des Krieges inszeniert – nicht erinnert. In ihrem Inneren finden sich zahlreiche weitere merkwürdige Symbole und seltsame Pseudo-Reliquien wie beispielsweise die Schirmmütze Adolf Hitlers sowie die Graberde von Gräbern sowjetischer Soldaten von verschiedenen Friedhöfen Europas. Der Bau der Hauptkirche der Streitkräfte Russlands setzte damit einen wichtigen Meilenstein in der Transformation des stillen Gedenkens an die sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkrieges in einen reinen Todeskult des „Großen Sieges“ – einer Staatsritualisierung der Gefallenen für ideologische Zwecke. Aus den genannten Gründen fühlen sich nicht wenige Beobachter beim Anblick der Hauptkirche der Streitkräfte Russlands vielmehr an einen heidnischen Kriegstempel als an ein christliches Gotteshaus erinnert. Denn was hier verehrt wird, ist nicht der Friede, sondern der Sieg. Nicht die Opfer, sondern die Selbstaufopferung aus Gründen der Staatsräson. Nicht das Ende des Krieges, sondern dessen Verklärung als nationale Erweckung.

Obwohl alle Völker der Sowjetunion – inklusive der kurz nach Kriegsbeginn massiver Verfolgung durch den sowjetischen Repressionsapparat ausgesetzten Russlanddeutschen – zum Sieg im Kampf gegen das Dritte Reich beigetragen, reklamiert der Kreml heute die Exklusivität des Sieges nahezu ausschließlich für Russland und die Russen. Die Beiträge der Anderen – so hatten insbesondere das ukrainische sowie das belarusische Volk weit überdurchschnittlich hohe Opferzahlen zu beklagen – sind im offiziellen Narrativ bis auf wenige, bewusst gesetzte Ausnahmen nicht existent. Der „Große Sieg“ wurde in den letzten Jahren in einen identitätspolitischen Besitzanspruch des russischen Volkes verwandelt. Kritik daran wird als Angriff auf die nationale Einheit gewertet und rigoros verfolgt.
Die historische Pluralität der sowjetischen Siegesgeschichte wird zugunsten einer exklusiv russischen Heldenerzählung getilgt. Diese Form von nationalem Gedächtnismonopol gleicht einem symbolischen Enteignungsakt gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken. Dabei hatte sich nicht nur die Sowjetunion, sondern auch das neue Russland über Jahrzehnte mit der Instrumentalisierung des Gedenkens weitgehend zurückgehalten. Der Krieg war im kollektiven Bewusstsein gleichsam einer offenen, unverheilten Wunde omnipräsent, aber das Erinnern blieb persönlich, familiär, oft von stiller Trauer geprägt. Heute wird dieser familiäre Charakter verdrängt von einer staatlich inszenierten Propagandashow, die vielen ehemaligen Sowjetbürgern fremd, ja gänzlich unerträglich geworden ist. Nicht wenige fühlen sich durch die Putin’sche Erinnerungspolitik eines wichtigen Teils ihrer Familiengeschichte beraubt und verweigern in der aufzehrenden Sicherheit des Schweigens gefangen zuweilen gänzlich jedwedes Gedenken.
Von der Vergangenheit zur GegenwartDer Blick zurück dient längst nicht mehr dem Gedenken – er dient der Rechtfertigung gegenwärtiger Gewalt. Seit 2014 – spätestens jedoch seit der vollumfänglichen Invasion gegen die Ukraine – versucht der Kreml, die Erinnerung an 1945 als Rechtfertigung für seine Gewaltakte zu instrumentalisieren. Diejenigen, die heute die „Faschisten in der Ukraine bekämpfen“, so die propagandistische Botschaft, seien „die direkten Erben jener, die Mütterchen Russland gegen Hitler verteidigt“ hätten.
Der Angriffskrieg wird rhetorisch in einen Verteidigungskampf umgedeutet, die Ukraine zum Feind erklärt, der im Rahmen der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ „entnazifiziert“ werden soll, um das „Friedenswerk von 1945“ zu vollenden. Die russische Armee wird damit zu einer moralischen Größe vom Range der Roten Armee in ihrem Überlebenskampf. Die Parallelen sind allerdings hanebüchen konstruiert und bleiben damit unglaubwürdig.

Die Teilmobilmachung im Herbst 2022 wurde zum Lackmustest für die Wirksamkeit der über Jahre aufgebauten staatlichen Geschichtspolitik – und entlarvte die propagandistische Fassade als ein Potemkin’sches Dorf. Trotz acht Jahren medialer Dauerbeschallung, trotz permanenter Dämonisierung der Ukraine, trotz der ideologischen Gleichsetzung der „Spezialmilitäroperation“ mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ blieben die Massen aus – Hunderttausende junger Männer verließen das Land.
Interessanterweise reagierte der Staat auf diese Entwicklung mit nüchternem Rückzug – sprach weiterhin nicht von „Krieg“ und verzichtete auch in seinen Rekrutierungskampagnen auf patriotische Rhetorik oder historische Bezugnahme. Stattdessen wurden Soldhöhe, Prämien und Vertragslaufzeiten beworben: Die Mobilmachung präsentierte sich nicht als Aufruf zur Landesverteidigung, sondern als simple Jobanzeige, standen doch auf den Plakaten keine Heldenbilder, sondern Rubelbeträge. „Kampf um die Hypothek“ ersetzte den „Kampf für das Vaterland“. Die ideologische Durchdringung der atomisierten russischen Gesellschaft erwies sich als Illusion – alles, was mobilisiert werden konnte, war ökonomisches Kalkül. Der Versuch, die Gegenwart als Fortsetzung von Vergangenheit zu inszenieren, zerbrach in symbolische 1945 Stücke und offenbarte die fundamentale Krise eines Staates, der seinen Gründungsmythos nur noch mit Geld absichern kann.

Was bleibt im Jahr 2025 vom „Großen Sieg“? Eine politisch ausgebeutete Erzählung, ein entleerter Mythos, ein ritualisiertes Staatsgedenken, das weder mobilisiert noch tröstet. Der 9. Mai, einst ein Tag stiller Trauer, ist zum ideologischen Kultritual einer Macht geworden, die sich in der Vergangenheit verschanzt, weil sie der Zukunft nichts zu sagen hat.
Wenn Erinnerung zur Inszenierung, Geschichte zur Kulisse und Gedenken zur Staatsdoktrin wird, verliert ein Volk nicht nur sein Gedächtnis – es verliert auch seine moralische Orientierung. Der 9. Mai verdient stille Ehrfurcht, nicht inszenierte Unterwerfung. Wer vergangene Größe zur Legitimation neuer Gewalt missbraucht, verspielt beides: Gegenwart und Zukunft.
Nur ein Russland, das sich vom sakralisierten Dogma des ‚Großen Sieges‘ löst, kann den Weg in eine postimperiale Zukunft finden – nicht auf Mythen gegründet, sondern auf Verantwortung. Erinnerung darf keine Waffe sein, sondern muss zur moralischen Verpflichtung werden. Erst wenn Russland sich seinen Verbrechen stellt, kann es beginnen, ein anderes Kapitel aufzuschlagen: eines, das nicht Sieg heißt, sondern Freiheit.
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Berliner-zeitung