Ichi-go ichi-e: Der japanische Schatz, den Moment zu ehren

Der japanische Begriff "ichi-go ichi-e" bezeichnet die Einmaligkeit eines Moments. Warum er psychologisch wertvoll ist und wie er uns helfen kann, uns zufriedener zu fühlen und unser Leben wertzuschätzen.
Manchmal hadere ich mit den Grundregeln des Lebens. Zum Beispiel mit dem unumstößlichen Gesetz, dass Glücksmomente nicht ewig währen. Oder mit dieser vermaledeiten Tatsache, dass ich schwierige Phasen nicht einfach überspringen, vorspulen oder verschlafen kann. Was bitte soll das?
Wäre ich Japanerin oder würde wenigstens Japanisch sprechen, fiele es mir womöglich leichter, diese zwei Prinzipien unseres Lebens zu akzeptieren und sie sogar wertzuschätzen: Mit dem Begriff "ichi-go ichi-e" bezeichnen und achten Japanisch-Sprechende nämlich die Einmaligkeit des Moments – und alles, was mit ihr einhergeht.
Der Ausdruck "ichi-go ichi-e"Das Wort setzt sich aus drei verschiedenen Bestandteilen zusammen: "ichi" für "eins", "go" für "Zeit" und "e" für "treffen". Übersetzt bedeutet es somit "eine Zeit, ein Treffen". Als fester Begriff existiert der Ausdruck in der japanischen Sprache vermutlich seit dem 16. Jahrhundert, als ihn insbesondere der Teemeister Sen no Rikyū geprägt haben soll: Ursprünglich bezog er sich auf die traditionellen, buddhistischen Teezeremonien, die die Teilnehmenden als jeweils einzigartig würdigen wollten. Zwar fanden diese Zeremonien regelmäßig statt und oft auch mit den gleichen Personen – doch naturgemäß niemals ein zweites Mal in genau diesem Moment mit seinen einzigartigen äußeren Bedingungen, inneren Stimmungen, Wissensständen und Eindrücken.
Entstanden also, um der Besonderheit und Einzigartigkeit eines speziellen, rituellen Moments einen Namen zu geben, beeinflusst der Ausdruck heute das japanische Denken sowie den japanischen Blick auf Leben und Alltag. Er fördert das Bewusstsein, dass alles Erleben vergänglich ist und sich nichts auf genau dieselbe Weise für uns wiederholt.
Wie "ichi-go ichi-e" unsere Psyche bereichern kannLaut der Psychologin Marianna Pogosyan begünstige "ichi-go ichi-e" als verinnerlichtes Konzept eine Sichtweise, die uns Erfahrungen als einzigartiges Geschenk begreifen lassen – oder zumindest als einmalige Chance. Dadurch könne er dazu beitragen, dass wir das Leben insgesamt mehr wertschätzen und einzelne Momente intensiver wahrnehmen, schreibt sie in einem Beitrag für "Psychology Today".

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Dazu passt die Beobachtung der Psychologin Yukiko Uchida, die an unterschiedlichen Studien zum japanischen Glücksverständnis beteiligt war: Ihr zufolge streben Menschen in Japan eher nach einem unaufregenden, durchschnittlichen Leben als nach außergewöhnlichen Erfolgen und herausragenden Höhepunkten. Im Lichte von "ichi-go ichi-e" wohnt schließlich jedem Moment etwas Besonderes inne, sowohl den unscheinbaren als auch den außerordentlichen. Die unscheinbaren allerdings bringen uns weniger aus der Ruhe, gefährden weniger unseren inneren Frieden als die überdurchschnittlichen – und das empfinden Angehörige ihrer Kultur tendenziell als wünschenswert, so die japanische Psychologin.
Denke ich wiederum an meinen zweiten großen Kritikpunkt am Leben – dass ich unangenehme Phasen nicht skippen kann –, sehe ich noch einen weiteren, mir sehr zusagenden Aspekt von "ichi-go ich-e": Durch jede schwere Zeit muss ich nur ein einziges Mal hindurch. Blöde Momente, die ich am liebsten überspringen würde, vergehen so oder so und werden sich niemals in genau der gleichen Weise wiederholen. Zwar habe ich damit noch nicht gelöst, wie ich am besten damit umgehe. Aber ich kann mich immerhin damit trösten: Wenn es einmal vorbei ist, ist es vorbei. Und vielleicht bekommen dadurch sogar schwere Zeiten einen Wert.
Brigitte
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