Je pathetischer die Zeiten, umso nüchterner ihr Chronist: Der irische Schriftsteller Colm Tóibín wird 70


Vielleicht lässt sich Colm Tóibín, der grosse Elegiker der irischen Literatur, so am besten feiern. Man schenkt ihm zurück, was er uns schenkt. Zum 70. Geburtstag erscheint jetzt sein erster, vor drei Jahren im Original publizierter Gedichtband «Vinegar Hill» auf Deutsch. Das ist ein Ereignis von wundersamer Energie.
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Man unternimmt einen Streifzug durch das Leben eines Autors, dem das Pompöse immer ein Grauen war und der sich auch in der Lyrik für Zurückhaltung entscheidet. Je pathetischer die Zeiten, umso nüchterner ihr Chronist. Schlicht «September» heisst ein Gedicht, das vom ersten Herbst der Pandemie handelt, von der leergefegten Pembroke Street in Dublin und einem «älteren Herrn mit Maske». «Sein Gang ist lebhaft, / forsch sind seine Gesten. Für einen kurzen Moment / begegne ich seinem wässrigen Blick. / Ohne innezuhalten und ganz sachlich / sagt er: ‹Jemand behauptete, Sie seien schon tot.›»
Ein ÜberlebenderDer alte Kalauer, wo ein Lebender Gerüchte um seinen Tod als übertrieben bezeichnet, kommt einem in den Sinn, aber bei Colm Tóibín ist das Sterben mehr als nur eine Fama. In Corona-Zeiten lag der Schriftsteller in jener Dubliner Strasse mit Krebs im Spital, wo die Blooms aus James Joyces «Ulysses» gewohnt hatten. «Wenn die Chemo / den Tumor killt / und mich nicht, / erwartet mich / ein mustergültiger Morgen», heisst es. Der Patient im Nebenzimmer muss Heavy-Metal-Musiker sein. Seine bärtigen Freunde sieht man vorbeihuschen, und sie haben ihre Gitarren dabei. Das Leben geht weiter, so lange, bis es der Tod zum Stillstand bringt.
Nicht wenige Gedichte in «Vinegar Hill» handeln vom Sterben, von aufgebahrten Verwandten und Freunden, aber sie handeln auch von einer Geburt im Angesicht der grossen Geschichte. Vinegar Hill heisst der irische Hügel, auf dem die Landsleute 1798 den entscheidenden Freiheitskampf gegen die Engländer verloren. In Sichtweite des historischen Ortes wurde Colm Tóibín 1955 geboren. Von Enniscorthy aus malte die Mutter den Vinegar Hill wieder und wieder. Er war ein Motiv für sie jenseits aller Aufladung, so wird es in Tóibíns titelgebendem Gedicht beschrieben.
Michael Krüger und Volker Schlöndorff, Freunde des Autors, haben diese Lyrik übersetzt und sie ganz grossartig bei ihren Wurzeln gepackt. Der Ire sucht das Geheimnis in der bestürzenden Gewöhnlichkeit der Welt. Er ist ein Archäologe scheinbarer Nichtigkeiten, und das ist auch kein schlechter Weg, um zu sich selbst zu kommen. Dublin, Barcelona, Los Angeles und New York sind Tóibíns Lebensorte. Sie kommen auch in den Gedichten vor, die subtile Pointen haben.
Homosexuelle IdentitätIm Mai 2015 wird im katholischen Irland die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt. In einer autobiografischen Reminiszenz durchwandert der homosexuelle Schriftsteller die Schauplätze eines früheren Doppellebens. Die Klubs und Bars, das Zwielicht katholischer Scheinheiligkeit. Die Geschichten von früher sind mit den schwulen Geschichten von heute nicht kompatibel, und das Ich des Gedichts «Dublin, Samstag, den 23. Mai 2015» fühlt sich in der neuen Freiheit wie ein Exilant.
Colm Tóibín, das ist der grosse Essayist, der an Thomas Mann und Henry James geschulte Romancier. «Vinegar Hill» liefert Mikrogeschichten, ganze Epen auf kleinstem Raum. Sie sind mitunter voller Sarkasmus und berückend schön. Als Rückseite des Glücks immer die Trauer. «August» heisst eines der melancholischsten Gedichte: «Noch ein Tag ganz für uns. / Ich bin bereit. Die Zeit der Kirschen / ist vorüber. Und bald auch gibt es / keinen Pfirsich mehr und keine Nektarine. // Die Sonne wandert, bis sie / ganz Licht ist. Es ist nun Zeit, / ins Haus zu gehen, doch träge, / so wie Staub im Schatten.»
Colm Tóibín: Vinegar Hill. Gedichte. Ins Deutsche übertragen von Michael Krüger und Volker Schlöndorff. Edition Lyrik Kabinett im Hanser-Verlag, München 2025. 128 S., Fr. 34.90.
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